Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
ständig Streit.
Viel lieber als zu Hause ist Beate bei ihrer Oma. Immer wieder lässt die Mutter sie bei ihrer Großmutter. Besonders im Sommer. Dann packen Oma Anneliese und Opa Fritz die beiden Enkel, Beate und ihren Cousin Stefan, in ihren grauen Trabant und fahren raus aus Jena. In der Nähe von Ölknitz haben sie einen kleinen Garten. Beate und Stefan spielen im Wald, klettern durch verlassene Ruinen, wandern zu einer Jagdhütte oder kriechen in eine Höhle beim Helenenstein.
Nach ihrer Verhaftung wird Beate Zschäpe sagen, dass sie ein «Omakind» war.
Im letzten Jahr der DDR schließt sich Beate Zschäpe einer Gruppe Halbstarker in Winzerla an. Sie ist 14 Jahre alt. Mittlerweile ist sie mit ihrer Mutter in eine Wohnung in das Neubaugebiet Winzerla gezogen. Weil in den Carl-Zeiss-Werken immer mehr Menschen arbeiteten, die dann auch Wohnungen brauchten, baute die DDR hier seit 1980 neue Häuser für über zehntausend Menschen.
In Zschäpes Gang sind Punkerinnen mit roten Haaren, aber auch unpolitische Jugendliche. Die Gruppe nennt sich «Die Zecken» und sieht sich selbst als klar links an. Eine Frau, die damals in der Gruppe dabei war und sagt, dass sie eine Linke war, erinnert sich, dass Beate Zschäpe sich selten politisch geäußert hat. «Beate war damals der lebenslustige Mensch, der nicht so auf politische Einstellung aus war. Sie wollte einfach nur ihr Leben genießen.»
Es ist die Zeit zwischen den Systemen. Ein Land im Schwebezustand. Das letzte Jahr der DDR. Die alte Ordnung ist untergegangen, aber Deutschland ist noch nicht wiedervereinigt, die neue Ordnung noch nicht installiert. Es ist eine Zeit, in der die Dinge verrutschen. Was geht, was geht nicht? Niemand scheint das so genau zu wissen. Die Zeit dauert elf Monate, vom November 1989 bis zum Oktober 1990.
Mit dem Verschwinden der DDR tauchen Fragen und Haltungen wieder auf, die man in Deutschland jahrelang für geklärt und verschwunden gehalten hat. Soldaten desertieren massenweise aus der NVA. Über den Abzug der sowjetischen Truppen – die in Jena sogar im Stadtzentrum stationiert sind – wird offen diskutiert. In den Gefängnissen in der gesamten DDR streiken die Häftlinge. Die Burschenschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg nur in Westdeutschland weiterbestanden, wollen nach Jena zurückkehren. Als die Alliierten mit BRD und DDR über den «2-plus-4-Vertrag» verhandeln, fordern die Vertriebenenverbände, dass die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannt wird. Sie verlangen, dass die Gegenden in Polen und der Sowjetunion, aus denen sie kamen und die sie «die deutschen Ostgebiete» nennen, wieder zu Deutschland gehören sollen.
Die Republikaner und andere rechte Parteien aus der alten Bundesrepublik versuchen sich auch im Osten zu etablieren. Sie fühlen sich gestärkt von ihren Wahlerfolgen. Bei der Wahl in Westberlin bekommen die Republikaner 1989 acht Prozent der Stimmen, bei Europawahlen im selben Jahr sogar 9,5 Prozent bundesweit.
Die Jenaer Lokalblätter Volkswacht und Thüringische Landeszeitung berichten erstmals offen über Skinhead-Angriffe. Kurz vor Weihnachten 1989 ist ein Skinhead zufällig mit zwei Bekannten auf der Terrasse über der Thomas-Mann-Buchhandlung. Als die drei in wenigen Metern Entfernung zwei 13-jährige, Eis leckende Schüler sehen, beschließt der Skinhead, die Jungen «aufzuklatschen», weil er sich von ihnen «so komisch angeguckt fühlt». Wenn Skinheads zuschlagen, schreiben die Zeitungen noch von «Rowdytum» – auch strafrechtlich wird das so gesehen, nicht als rechtsradikale Straftat.
Kurz vor Silvester 1989, nur wenige Tage vor Beate Zschäpes 15. Geburtstag, wird das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin beschmiert: «Besatzer raus» und «Volksgemeinschaft statt Klassenkampf» steht am Morgen an dem Mahnmal.
In Gera, einer Stadt in der Nähe von Jena, passiert an diesem Wochenende etwas Ähnliches. Zum Jahreswechsel werden auf dem Ostfriedhof im sowjetischen Ehrenhain fünf Grabsteine umgekippt und 34 rote Sterne abgebrochen. Jugendliche hätten den Anschlag verübt, «antisowjetische Parolen» gebrüllt und Steine auf sowjetische Staatsbürger geworfen, schreiben die Zeitungen.
Der Angriff auf das Ehrenmal in Berlin empört viele Menschen, drei Tage später kommen 250000 zu einer Demonstration nach Treptow. Neben der SED-PDS hat auch die alte Blockpartei LDPD dazu aufgerufen.
Der antifaschistische Konsens der DDR – so staatlich erstarrt, wie er war – löst sich zusammen
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