Die zerborstene Klinge: Roman (German Edition)
kurzen, geraden Dolch hielt, den wir das Auge nannten, war nun geöffnet, doch kein Laut hatte die Bewegung verraten.
Ich erhob mich und nahm das Auge an mich. Drückte es an meine Lippen und flüsterte: »Für Ashvik.« Dann ließ ich es in eine abwärtsgerichtete Scheide an einem der Brustriemen meines Geschirrs gleiten.
Ein letztes Mal blickte ich in das kühle, graue Gesicht meiner Göttin – wunderschön und vollkommen still, eine Form in Stein gemeißelt und doch so unfassbar lebendig. Dann machte ich kehrt und ging über das Wasser zurück zum Ufer.
In meinen Alpträumen sehe ich sie manchmal noch so, nur für einen Moment. Und dann wird sie zu einer gewöhnlichen Statue auf dem Grund des Sees, toter Granit, beraubt all seiner Präsenz, so, wie sie war, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. An den Tagen, die auf solche Träume folgten, fing ich früh an zu trinken.
Devin und Zass warteten auf uns, als wir von der Insel zurückschwammen. »Das ging schnell«, sagte Devin, als ich mich im seichten Wasser aufrichtete. »Ich staune, dass du überhaupt in der Lage warst, zurückzuschwimmen. Hat Namara dich zurückgewiesen?«
Seine Worte hatten mich so überrascht, dass es mir die Sprache verschlug, also griff ich in den Korb und hielt zur Antwortmein Kīla hoch. Die einzige Reaktion bestand darin, dass er hörbar nach Luft schnappte. Als ich schließlich an Land gewatet war, legte ich den Seelendolch zur Seite und zog das Geschirr hervor. Dieses Mal troff massenweise Wasser von dem Lederriemen und den Scheiden, und ich nahm einen vagen Geruch von Seewasser wahr, als ich anfing, es festzuschnallen.
»Wie lange war ich fort?«
»Etwas mehr als eine Stunde«, entgegnete Devin. »Du schwimmst mit diesem Korb schneller, als ich je geschwommen bin. Und das muss die kürzeste Vigil-Investitur in der Geschichte des Ordens gewesen sein. Bist du vom Ufer zum Teich gerannt?«
»Nein. Es hat sich angefühlt, als würden Ewigkeiten vergehen, viel länger, als ich wirklich fort war, selbst ohne das Schwimmen.« Ich schloss die letzte Schnalle und rollte mit den Schultern, um mich zu vergewissern, dass alles anständig saß. »Bist du sicher, dass ich nur eine Stunde weg war?«
Devin nickte, und ich glaubte, Zass ebenfalls nicken zu sehen, allerdings war er bei diesem Licht fast unsichtbar. »Vielleicht hat die Göttin die Zeit für dich gekrümmt«, sagte der Finsterling. »Triss?«
Mein Vertrauter reckte den Kopf über meine Schulter, und ich fühlte, wie seine Schattenschuppen über meine Wange glitten. »Ich weiß es nicht. Was immer passiert ist, ich war mittendrin und habe nichts gespürt. Aber jetzt rennt die Zeit, und wir müssen uns beeilen, wenn wir vermeiden wollen, ganze Tage im Streit mit den Meistern zu vergeuden.«
Wie üblich hatte Triss recht. Ich schnappte mir die Kīla und drehte mich zu Devin um. »Begleitest du mich, um Zeuge der Zeremonie zu werden?«
Seine Zähne glänzten in der Dunkelheit und verrieten sein kurzes Lächeln. »Klar.«
Für zwei in Schatten gehüllte Jungs war es kein Problem, anden Aufpasserpriestern an der Tür zum inneren Tempel vorbeizuschleichen und von dort aus unbemerkt weiter zum Heiligtum der Schwertführer zu gelangen. Dort blieben wir am Eingang stehen, um den Schatten über unseren Augen zur Seite zu ziehen und nachzusehen, ob sich in dem Raum irgendwelche ranghöheren Klingen aufhielten. Ich konnte niemanden sehen, aber das hieß hier weniger als an jedem anderen Ort. Klingen hüllten sich oft in Schatten, wenn sie Namara ihren Respekt erwiesen oder ihre Gebete sprachen.
Dennoch, als frisch geschmiedete Klinge hatte ich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht. Mit einer knappen Geste tat ich Triss meine Absicht kund und trat über die Schwelle und aus seinem Schatten heraus. Das Heiligtum bestand aus einem großen, ovalen Raum mit spitz zulaufenden Enden und einem Kuppeldach, der an der schmalsten Stelle vielleicht dreißig Fuß breit war. Die Türen befanden sich an den beiden Enden.
Über der Mitte des Raums öffnete sich ein kreisrundes Oberlicht den Launen des Wetters. Darunter befand sich ein großer Kreis aus Lapislazuli, in dessen Zentrum eine Obsidiansphäre glänzte. Von oben und im Einklang mit dem weißen Oval der Kuppel repräsentierte dies das große, starre Auge, dessen Pupille die Sphäre darstellte.
Zügig und leise, wie ich es gelernt hatte, durchquerte ich den Raum von der Tür bis zum äußeren Rand des Lapislazulistreifens. Dort
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