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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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gesegnet folgte die kleine Coco eben ihrem Herzen. Er sieht sie aus der Badewanne steigen, ihre samtige Karamellfarbe, an der Schönheit ihres nackten Körpers ist nichts Erotisches – Coco ist ein Kind. Aber so hübsch. Als sie Coco aus China nach Hause geholt hatten, meinte Lizzie: »Schau mal, ihr Bäuchlein und die winzigen Zehen. Schau mal ihre Fußbeuge. Und die Ohren, wie Perlmuttmuscheln. Sie ist perfekt, Richard. Sogar ihre kleine Vagina .« Letzteres hatte sie mit einem Flüstern gesagt, weil es so eine heimliche Wonne war, eine elterliche Wonne, die einzigartige Pracht der Genitalien ihres Kindes zu bestaunen.
    Richard wendet sich wieder dem Video zu. Wendet sich Daisy zu. Was er fühlt, grenzt an Fassungslosigkeit. War sie nicht die Tochter von jemandem? Als sie geboren wurde, hatten ihre Eltern da miteinander nicht diese intime Freude am Wunder ihres Körpers geteilt? Des Körpers, den sie nun so völlig tabulos seinem ungalanten Sohn vorführte. Und bei all der trostlosen Anzüglichkeit des Videos, der Geschmacklosigkeit, aller sexuellen Unreife und Unbedarftheit liegt in der Art, in der das Mädchen sich offenbarte, sich zur Schau stellte, sich wahrhaft entblößte, doch auch etwas Kühnes, Kraftvolles, Potentes, Lächerliches, Selbstopferndes und vollkommen Verrücktes. Es spricht ihn an. Ist er wahnsinnig? Er fühlt sich in diesem Moment wahnsinniger als je zuvor in seinem Leben. Er fühlt sich davon berührt. Und weil das Video alles das ist und mehr, weil es irgendwie doch die buchstäbliche Essenz der Bedeutung von Nacktheit darstellt, weil diese Daisy sich so völlig verletzlich und offen und hundertprozentig entblößt gibt, bricht es Richard auch das Herz.
    Hat er selbst sich jemals so wehrlos gegeben gegenüber jemandem, den er liebte? Gegenüber irgendjemandem?
    Die Antwort lautet schlichtweg, nein. Richard hat nie den Mut dazu gehabt. Nie gewusst, wie er es anstellen sollte.
    Da verspürt Richard ein Gefühl von Verlust und eine derart starke Sehnsucht, dass er tatsächlich einen leisen Schrei ausstößt. Im Schatten von Daisys törichter Unerschrockenheit giert er danach, das Siegel der eigenen Verschlossenheit zu brechen. Mehr als alles will er die Kühnheit haben, sich zu erkennen zu geben.
    Er trinkt wieder einen Schluck Scotch.
    Daisy wollte, dass Jake sie kennen sollte. Sie wollte es unbedingt, denkt Richard. War es falsch, diese Art von Einssein zu ersehnen – die Auflösung von Grenzen, die Verschmelzung von Seelen –, so sehr, dass sie gewillt war, alles zu riskieren?
    Richard kennt sich nicht einmal richtig selbst.
    Dieses kleine Mädchen, diese Blume , verschwendete sich, verschwendete sich an seinen Sohn. An einen Jungen, der so bemerkenswert dämlich war, dass er überhaupt nicht kapierte, dass dieses Geschenk, das sie für ihn machte, das sie ihm darbot, für ihr schieres Überleben viel zu wertvoll und zu essentiell war, als dass er es wie einen unwichtigen E-Mail-Kettenbrief weiterleiten durfte.
    Wer gab Jake eigentlich die Befugnis, privates Eigentum an sich zu nehmen, es sich ohne Einwilligung der Besitzerin anzueignen? Was war los mit ihm?
    Richard nimmt das Telefon und wählt die Nummer seiner Eltern. Niemand meldet sich. Er weiß, dass sich niemand melden wird. Unter der Nummer hat sich seit Jahren niemand gemeldet. Sein Dad war gestorben, als Richard siebzehn war, zu jung, zu jung für seinen Vater, zu jung für Richard. Seine Mutter war gestorben, kurz bevor sie nach China gefahren waren, um Coco zu holen – wenigstens hatte sie noch ein Foto von Coco gesehen, wenigstens hatte sie Lizzie kennen- und lieben gelernt, wenigstens hatte sie die besondere Freude erlebt, Jake heranwachsen zu sehen. Mehr als alles auf der Welt will Richard jetzt die Stimme seines Vaters hören. Er konnte einem immer so gute Ratschläge geben. Sein Vater war nicht gebildet, und das Leben, das sie zusammen geführt hatten, Dad und seine Mutter und die drei Jungs, war schlicht und vorhersagbar und schwer gewesen. Ihm fehlte die Komplexität, mit der Richard jeden Tag konfrontiert ist, aber es kannte auch nicht die Raffinesse und Annehmlichkeiten – Reisen, Kunst, faszinierende Freunde, einflussreiche Kreise, Restaurants, Urlaubsreisen, gute Schuhe und handgeschöpften Käse, Bio-Obst und erlesene Weine, all die Extras, die er inzwischen wie selbstverständlich genießt.
    Richard war ein Goldjunge, nun ist er ein Mann, dem das Gold zu Füßen gelegt wird, doch es mangelt ihm an Dads Weisheit.

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