Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
neuer Schnee gelegt hatte.
Tomke sandte mehrere Männer mit größeren Fetzen der zerborstenen Außenhülle des schwarzen Luftschiffes ins Dorf, wo die Stücke ordentlich geflickt und vernäht werden sollten, damit wir unser Gerüst damit bespannen konnten. Es ging erstaunlich schnell, da wir nun mit sicherlich einem halben Dutzend Männern und Frauen an den Gleitflügeln arbeiteten. Doch immer wieder, wenn ich die gut acht Meter umspannenden Flügel anhob, stellte ich fest, dass sie überraschend schwer waren. Holz war zu rar gewesen – vieles war bei der Explosion verbrannt und anderes zur Reparatur der Frijheid benutzt worden, deshalb hatten wir auch schmale Stahlverstrebungen verwenden müssen. Zudem war die Apparatur unsäglich sperrig, nichts daran konnte man zusammenklappen, wie Æmelie es vorgesehen hatte. Wenn Tomke plante, es von einem Luftschiff aus zu starten, musste sie sich noch etwas einfallen lassen, das über den Prototyp hinausging.
„Aber es ist ja nur ein … Prototyp“, sagte sie leichthin. Sie hatte sich neben Ynge gesetzt und schenkte sich starken, schwarzen Tee aus der Kanne ein, die Friedrick aus dem Dorf geholt hatte. Die Friesen waren regelrecht vernarrt in dieses Getränk, das im konservativen, biertrinkenden Süden des Kaiserreichs abfällig chinesisches Drachengift genannt wurde. „Hast du mal nachgesehen, ob diese Pläne … ich meine, ob sie in ihrem Kopf drin sind?“
„Was? Im Kopf?“
„Ja, ich meine, in diesem Riss. Vielleicht hat deine Frau sie dort versteckt.“
„Nein. Der Riss ist erst entstanden, als ich aus dem Fenster gefallen bin. Davor hatte die Puppe zwar auch schon einen Sprung, aber das war nur ein kleiner Kratzer, nicht mehr.“
Tomke nahm Ynge hoch, und ich zuckte zusammen und krallte die Hände um meine heiße Teetasse. Ynge starrte mich entsetzt aus großen Kulleraugen an. „Bitte, sie mag das nicht.“
In ihrer Neugierde schien Tomke mich nicht gehört zu haben. Sie schob die Spitze ihres kleinen Fingers in den Riss in Ynges Schädel, und Ynge schrie durchdringend auf. „Sie mag das nicht! Sie mag das nicht, gib sie sofort her!“, brüllte ich und ließ die Tasse fallen, um Tomkes Hand und Ynges Körper zu fassen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, und eine Übelkeit erfasste mich, die mich beinahe überhören ließ, dass andere um uns herum lachten. Erschrocken ließ Tomke den Puppenleib los und sah mich an, als habe ich sie geschlagen. Für einen Moment war ich mir nicht sicher, dass ich es nicht getan hatte.
Ich rang mühsam um Fassung. „Das darfst du nicht“, sagte ich. „Niemand … darf das.“ Ynges Körper war warm, wärmer eigentlich, als er durch die kurze Berührung durch Tomke hätte sein dürfen. Aber vielleicht bildete ich es mir nur ein, denn ich selbst war auch schweißüberströmt.
Tomke schluckte. „Du bist verrückt“, brachte sie dann zornig hervor. „Wie alle es sagen.“
„Das wusstest du doch, bevor du dich …“ Ich setzte mich und wiegte Ynge in meinem Arm. Tomke stand wortlos auf und machte sich wieder an die Arbeit. Am Abend war sie mit dem Gestell zufrieden – es musste nun nur noch bespannt werden, dann konnte man sich an einen Probeflug wagen. In diesen Tagen blies der Wind ganz ordentlich und machte zugleich Hoffnung, jemand könne mit dem Gleiter tatsächlich davonfliegen, und Angst, damit fortgerissen zu werden – denn es gab keine Möglichkeit, das Gerät zu steuern, man war den Launen des Windes ausgesetzt.
Glück ab, startendes Luftschiff
Holzschnitt
D ie Zeit drängte, und so blieben uns nur wenige Stunden am kommenden Tage, um noch an der Konstruktion unseres Gleiters zu feilen. Er war ein krudes, unelegantes Gestell, in welches man sich nach dem Absprung hineinhängen musste, mit den Händen eine trapezartige Konstruk tion umfassend, und wir hofften, dass man es mit Verlagerung des Körpergewichts lenken konnte.
Tomke tat so, als sei ihr Übergriff auf Ynge nie geschehen, sie lachte und scherzte und war ganz offensichtlich sehr aufgeregt. Sie hatte eine Stelle ausgesucht, an der das Oberland vielleicht vier Meter zum Unterland hin abfiel, das sich dort, wo Schnee und heller Sand sich vermischten, den Wellen darbot. Es war Ebbe, und es gab genug ebene schneebedeckte Fläche, auf der Tomke sich das Bein brechen konnte.
„Lass es jemand anderen machen“, hörte ich Eiken zu ihr sagen, der offenbar mehr um ihr Wohl besorgt war als jeder andere im Moment, denn Redjeven Hauke rief aus:
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