Die zerbrochene Uhr
zumeist, die große Summen für Wohltätigkeiten gaben oder hinterließen? Ein äußerst interessanter Aspekt, der aber nach einigem ›Nun ja‹ und ›Gewiß‹ umgehend versickerte.
Anne hatte ausnahmsweise gar nichts gesagt, und auch zum Klatsch konnte sie wie üblich nur wenig beitragen. Nur Henny verstand, warum sie sich so verdrießlich zeigte. Seit Jahren gab es Streit um die Einführung von Blitzableitern. Nicht auf allen Häusern, wer würde wagen, so etwas auch nur zu denken?, nein, nur auf den Kirchen, deren hoch in den Himmel aufragende Türme die reinsten Blitzfänger waren. St. Michaelis war durch einen Blitzschlag in Schutt und Asche gelegt worden, im vorigen Herbst hatte einer den Turm von St. Nikolai gestreift, es war ein Wunder, daß er kein Feuer gefangen hatte. Was die Kirchenvorsteher und Ratsmitglieder allerdings anders beurteilten, nämlich als weiteren Beweis für Gottes allgegenwärtige schützende Hand, die so eine neumodische Erfindung überflüssig, wenn nicht gar gotteslästerlich mache.
Anne interessierte sich brennend für alles, was mit elektrischen Experimenten verbunden war. Sie hatte mit großem Eifer und dank ihrer guten Verbindungen sämtliche Berichte über Blitzableiter aus ihrer englischen Heimat und den amerikanischen Kolonien herbeigeschafft, übersetzt und zu Dr. Reimarus getragen. Und nun?
Schon im Februar hatte der Arzt, ein wahrer Kämpfer für den Blitzableiter, der Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe seine umfangreiche Abhandlung über die Ursachen der Blitze und die Möglichkeiten, ihre Gefahren auf natürliche Weise abzuwenden, gehalten. Die Herren, eine Vereinigung von Bürgern, die sich in der Stadt um vernünftige Veränderungen zum Wohle aller bemühten, waren sehr angetan gewesen, der Sieg schien sicher. Die Abhandlung war gedruckt und an die Kirchenvorsteher gesandt worden, und nun war es August, und was war passiert? Nichts. Gerade hatte Reimarus ihr ein hastig gekritzeltes Billett gesandt, in dem er ihr mitteilte, die Entscheidung sei wieder einmal vertagt.
»Man stelle sich vor«, rief gerade Madame Bilsen, ganz standesbewußte Gattin eines Reeders und Tranhändlers mit langer Familientradition, »ein einfacher Physikus aus dem kleinen Altona, bisher alle Tage in den Armenhäusern auf Visite und kaum ein paar Mark lübisch in der Tasche, und nun königlicher Reisearzt!«
»Altona, meine Liebe«, sagte Madame van Witten, ohne den Blick von ihrem Teller zu wenden, der von dem Mädchen gerade mit einem Pudding von Aprikosen, Mandelmus, staubfeinem Zucker und unzähligen Eiern gefüllt wurde, »Altona ist nach Kopenhagen die größte Stadt in Dänemark. Und Struensee, man mag über ihn und seine Ansichten sagen, was man will, ist ein tüchtiger Arzt. Was er allerdings bei seinem neuen Herrn auch sein muß.« Sie ertränkte ihren Pudding in dunkelroter Fruchtsoße und griff nach dem Löffel. »Ein kränklicher Mensch, manche halten ihn schlicht für verrückt.«
»Aber doch sehr vornehm«, zwitscherte Agnes, »er weiß wirklich zu repräsentieren. Er reist mit einem Gefolge von sechzig Damen und Herren quer durch Europa, und seit sie in London angekommen sind, läßt er einen Ball nach dem anderen geben, Feuerwerke, Pferderennen, Paraden, Bootsfahrten, ach, es muß einfach grandios sein. Allein eine Maskerade, schreibt die Cousine meines Mannes, die die Ehre hatte, zu den auserwählten Gästen zu gehören, hat er sich 20000 Taler kosten lassen.«
»Ich sage ja«, Madame van Witten streckte in fröhlichem Triumph ihr Kinn vor, »völlig verrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet Struensee mit seinen aufrührerischen Ideen in einer solchen Gesellschaft lange seinen Kopf behalten wird.«
Was Agnes überaus geschmacklos fand. Für einen Moment war sie froh, daß Gräfin Bentinck, die seit dem letzten Jahr das große Haus am Jungfernstieg gleich neben dem ihren bewohnte, auch diesmal ihrer Einladung nicht gefolgt war. Zwar war nicht anzunehmen, daß sie mit dem dänischen Königshaus verwandt war (Agnes nahm sich vor, das umgehend zu überprüfen), aber eine so respektlose Beurteilung eines gekrönten Hauptes hätte sie gewiß zutiefst beleidigt. Was ganz und gar nicht zutraf, aber das konnte Agnes nicht wissen.
Die Gräfin war eine ehrfurchtgebietende Dame. Obwohl sie sich schon in jungen Jahren von ihrem niederländischen Ehemann, immerhin ein waschechter Reichsgraf, hatte scheiden lassen und seither ein
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