Die zerbrochene Uhr
Allerdings machte Magda ziemlichen Lärm, ihre Stimme übertönte alle anderen Geräusche.«
»Magdas Vater«, sagte die Domina, »war Dragoner. Manchmal merkt man das noch.«
Sie sah Rosina mit diesem ausdruckslosen Gesicht an, das nicht nur die Konventualinnen, sondern auch der Bürgermeister und der Klostervogt fürchteten, und schwieg. Dann erhob sie sich, ging zum Fenster und sah hinaus, als suche sie etwas auf dem Fleet. Als sie sich endlich umdrehte, war ihr Gesicht streng.
»Diese Eskapade war, wie ich schon sagte, sehr dumm. Oder sehr mutig. Es wäre mir lieb, das entscheiden zu können, Rosa. Deshalb möchte ich nun endlich wissen, wer du wirklich bist und was du hier suchst.«
Daß Paul Tulipan, der Porträtist, immer noch in ihrem Schreibzimmer wartete, hatte sie völlig vergessen.
DIENSTAG, DEN 9. AUGUSTUS,
NACHMITTAGS
»Ärgere dich nicht, Anne. Es dauert alles seine Zeit, und wenn es um eine so bedenkliche Neuerung geht, ganz besonders viel. Tröste dich mit einem Stück dieser köstlichen Makronentorte. Gegen Ärger und Gram hilft nichts besser als ein Krümchen von etwas besonders Delikatem.«
Henny Bauer schob, ohne eine Antwort abzuwarten, ein ordentliches Stück Torte aus Sahne, Schokoladencreme und in Zuckersirup eingelegten Früchten auf den silbernen Vorlegelöffel und kippte es schwungvoll auf Anne Herrmanns’ Teller. Ihr Rezept gegen die Beschwerlichkeiten des Alltags war ihr anzusehen. Henny Bauer, gerade zwanzig Jahre alt, war von jeher bis auf ihr etwas spitz geratenes Kinn ein rundliches Geschöpf. In den letzten Monaten allerdings schienen Kummer und Gram deutlich nachzulassen. Henny würde nie eine schlanke Birke werden, aber aus dem ungelenken Mädchen war seit dem letzten Jahr eine hübsche junge Frau geworden, deren Molligkeit besonders von den jungen Herren mit Wohlgefallen zur Kenntnis genommen wurde. Nicht, daß sie darüber gesprochen hätten, schon gar nicht in Anwesenheit von Damen, aber Anne wußte, daß auch ihr Stiefsohn Christian Mademoiselle Henny neuerdings mit anderen Augen ansah.
Leider zu spät. Im letzten Jahr noch hatten alle – außer Christian natürlich – bemerkt, daß Henny keine Gelegenheit ausließ, dem ältesten Sohn der Familie Herrmanns ganz zufällig über den Weg zu laufen, stets auch ganz zufällig frisch frisiert, im schönsten Kleid und mit dem durchscheinendsten Brusttuch. Das hatte in diesem Frühjahr schlagartig aufgehört, und Agnes Matthew, Gastgeberin des Nachmittagstees und unbestritten beste Spürnase für sich anbahnende Affairen, behauptete, der Grund sei einzig der junge Schöffer, neuerdings Lehrer der Kirchenschule von St. Jakobi, was die Damen allgemein – Henny war noch nicht eingetroffen, man konnte das hochinteressante Thema ausführlich debattieren – für unwahrscheinlich hielten. Was sollte die Tochter eines wohlhabenden Kaffee- und Galanteriewarenhändlers an einem Hungerleider von Kirchenschullehrer finden, auch wenn der einer guten (allerdings völlig verarmten) Familie angehörte und noch so schöne Gedichte machte? Dieser neuen Mode frönten schließlich viele, sogar der Kritiker am Theater am Gänsemarkt. Wobei die von Monsieur Lessing sehr viel vergnüglicher ausfielen als die von Monsieur Schöffer.
»Danke, Henny, aber ich habe wirklich keinen Hunger mehr.« Anne sah auf den fetten Kuchen und hatte nicht die geringste Lust, auch nur ›ein Krümchen‹ davon zu essen. Sie mochte die Teenachmittage in Agnes Matthews Salon, seit dem letzten Herbst regelmäßige Treffen, und ließ kaum einen aus, auch wenn der ursprüngliche Anlaß inzwischen ein wenig in Vergessenheit geraten war. Zwar wurde immer noch über neue Bücher debattiert, insbesondere solche, die sich mit der Erziehung befaßten wie Monsieur Rousseaus (leider sehr dicker) Roman Emile, aber der allgemeine Klatsch nahm doch eindeutig mehr Raum ein. Mademoiselle Stollberg hatte heute unverdrossen vorgeschlagen, das neue, ja druckfrische Werk von Monsieur Basedow zu lesen und zu debattieren, was Madame Bilsen nicht billigte. Es sei doch viel manierlicher, seriöse Schriften zu studieren, was aber kaum Gehör fand, da seriöse gewöhnlich auch langweilige Schriften waren. Mademoiselle Stollberg wollte zunächst den Titel erörtern: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer Uber Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt. Als ob es nicht auch etliche vermögende Frauen gebe, wahrhaft christliche Witwen
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