Die zerbrochene Uhr
jemand mit der Nachricht komme, Simon und Muto seien wohlbehalten zurück. Woher auch immer.
Niklas’ Sorge um seine beiden Freunde war vielleicht nicht ganz so groß wie die der Erwachsenen. Anders als sie konnte er sich gut vorstellen, daß Simon und Muto gar nicht in Gefahr waren, sondern einfach beschlossen hatten, eine Nacht auszubleiben, egal, was für ein Donnerwetter das zur Folge haben würde. Er hatte sich oft vorgenommen, herauszufinden, wie die Stadt in der Nacht war, in der Dunkelheit, wenn die ordentlichen Menschen schliefen und die aus ihren Löchern gekrochen kamen, die das Licht scheuten. Böttcher IV hatte wunderbare Geschichten von der nächtlichen Stadt erzählt, die mit der Stadt am Tage nur wenig gemein zu haben schien. Wunderbar grauenvolle Geschichten, nach denen Niklas sich erst recht nicht mehr traute, das sichere Haus am Neuen Wandrahm nach dem Zehn-Uhr-Läuten zu verlassen. Er wußte einfach nicht, ob er Simon und Muto bewundern und beneiden oder sich wie die Erwachsenen um sie sorgen sollte. Und noch etwas anderes hob seine Stimmung: Sein Vater wußte nun, daß das Tor der Schule an jenem Donnerstagmittag unverschlossen gewesen war. Niklas mußte sich nicht mehr damit quälen zu beichten, daß er wieder einmal etwas vergessen hatte, daß auch er in der Mittagspause im Johanneum gewesen war und die Tür offen gefunden hatte. Je länger er geschwiegen hatte, um so mehr war seine Angst vor der späten Beichte gewachsen. Er war noch einmal davongekommen. Und so lernte er in dieser Nacht, daß man es entgegen den Ermahnungen seines Vaters mit der Wahrheit doch nicht immer zu eilig haben sollte.
Claes und Wagner machten sich mit Rektor Müller auf den Weg zum Kaiserhof am Neß. Wofür Müller sehr dankbar war, nichts wäre ihm schrecklicher gewesen, als den Horstedts vom Verschwinden ihres Adoptivsohnes berichten zu müssen. Er kannte Claes Herrmanns gut genug, um sich darauf zu verlassen, daß der als erster das Wort ergreifen werde. Auch wenn ihn das in der Vergangenheit manchesmal gestört hatte, war er heute nur zu gerne bereit, bescheiden einen Schritt hinter den Scholarchen zurückzutreten.
Als sie das Gasthaus erreichten, wurden sie schon von Brooks erwartet. Claes hatte den Stallmeister zur Godardschen Werkstatt geschickt, denn dort, hatte Niklas gesagt, könne zumindest Simon sein. Er sei ja ständig dort. Aber bei dem Uhrmacher, berichtete Brooks, sei der Junge nicht, keiner von beiden. Simon sei seit einigen Tagen nicht mehr dort gewesen, der Uhrmacher selbst sei übrigens auch nicht zu Hause, nur die Mademoiselle, die habe aber gerne Auskunft gegeben. Nein, er habe nicht gefragt, wo der Uhrmacher sei. Aber er könne noch einmal hingehen und es feststellen.
Das fand Wagner überflüssig, es hatte bis morgen Zeit. Er gebe jedoch einen anderen, dringlicheren Auftrag, sagte er, wenn Monsieur Herrmanns gestatten würde, daß sein Stallmeister noch einen Weg für ihn machte? Es sei eine Nachricht zur Wache zu bringen, die keinesfalls jedem beliebigen Boten anvertraut werden könne.
Eine halbe Stunde später stand Grabbe im Schatten des Hofeinganges gegenüber der Wohnung von Melchior Bucher. Alle anderen hatten über dem Verschwinden der Jungen vergessen, was Mademoiselle Nieburgs Brief bewies: Auch Donners Kollege hatte Gründe gehabt, ihm den Tod zu wünschen. Wagner hatte das nicht vergessen, und er würde nicht zulassen, daß noch jemand verschwand. So stand der Weddeknecht in der Nacht, starrte zu den dunklen Fenstern der Wohnung hinauf und überlegte, daß es noch sehr früh sei, um zu Bett zu gehen. Und daß möglicherweise ein weiteres Zimmer der Lehrerwohnung zum hinteren Hof hinaus lag.
Der Apotheker von Husum, Asmund Horstedt, und seine Frau Regina saßen in der Weinstube im hinteren Teil des Gasthauses. Außer ihnen war niemand da, aus der Gaststube drangen jedoch gedämpft Geschirrgeklapper und die Stimmen von etlichen Gästen herein. Teller und Schüsseln waren schon abgeräumt, nur der Duft von in schwerem Rotwein gesottenem Ochsenschinken, von Nelken und gebratenen Zwiebeln lag noch in der Luft. Ein Weinkrug und zwei hochstielige Gläser mit elegant geschliffenen Kelchen standen vor den Horstedts auf dem Tisch. Und neben ihnen der ergeben vorgebeugte Wirt. Der hatte gleich, als der neue Gast sich nach den Weinen seines Kellers erkundigte, gemerkt, daß der ein Kenner war, und die Bedienung selbst übernommen. Wer sich in diesen Dingen so gut auskannte, konnte weder
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