Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
ergab vieles einen Sinn, das ihnen vorher rätselhaft erschienen war. Natsars auffällige Besorgnis etwa, als er Reghosch auf der Insel Zin vom Kampf mit Taramis abgehalten hatte. Einem Ungestreiften solche Schlüsselrollen anzuvertrauen, wie Asor sie bei der Eroberung von Jâr’en oder Debir eingenommen hatte, war Taramis immer seltsam erschienen. Diese Aufgaben hingegen dem eigenen Sohn zu übertragen, kam ihm fast natürlich vor. Und dann die blasse Hautmusterung – Reghosch war ein Mischling. Nur, warum hatte ein Götzendiener wie er behauptet, Gao angebetet zu haben?
»Wir müssen aufbrechen«, drängte Marnas leise.
Oban drückte überraschend fest die Hände der beiden Männer. »E-eine … Bitte müsst ihr mir noch erfüllen, Kameraden.«
»Was immer du möchtest«, sagte Taramis.
»Gut. Dann töte mich.«
» Was? Ich kann doch nicht … Aber warum?«
»Der Bastard hat mir seinen Speer in die Brust getrieben. Wenn er über meinen Tod bestimmt, dann wird er mit meinem Körper herumstolzieren können.«
»Das würde mir auch nicht gefallen, aber …«
»… und er wüsste alles, was ich über Komana und die königliche Familie weiß. Auch sämtliche Strategien und Taktiken, über die ich als König Bahas persönlicher Leibwächter Kenntnis erlangt habe. Alles. Ihr müsst mich töten, Freund, ehe meine Seelenkraft in ihn übergeht.«
Taramis warf seinem Lehrer einen hilflosen Blick zu und schüttelte den Kopf. Er hatte zwar schon viele Feinde ins Haus der Toten geschickt, aber das!
»Ich kann ihn nicht mehr lange halten«, flüsterte Marnas.
»Bitte, Oban«, flehte Taramis, »wenn du es willst, übergebe ich deine Gebeine Belimáh, der Großen Leere, aber das darfst du nicht von mir verlangen.«
Der Hauptmann nickte schwach. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »I-ich … kann dich verstehen. Dann danke ich dir, junger Tempelwächter, dass ich an deiner Seite kämpfen durfte. Leb wohl.«
Taramis biss sich auf die Unterlippe.
Auf einmal verzog Oban das Gesicht und riss die Augen auf. Seine Brust hob sich, als er rasselnd nach Atem rang. Dann sank er in sich zusammen.
»Oban!«, stöhnte Taramis.
»Er kann dich nicht mehr hören«, sagte Marnas.
Erschrocken blickte Taramis von dem Toten auf. Das Gesicht seines Meisters war eine Maske aus Stein. »Hast … du … ihn …?«
Der Hüter von Jâr’en legte behutsam Obans Hand auf dessen Brust und erhob sich. »Erinnerst du dich an den ersten Zählappell am Tag unserer Ankunft auf der Insel der Verdammten?«
»Ja?«, antwortete Taramis gedehnt.
»Kommandant Qoqh hatte das Herz unseres alten Kameraden Landes zerquetscht.«
»Willst du damit andeuten … Hast du mit Oban das Gleiche getan?«
Marnas nickte ernst. »Aber ganz sanft.«
Unter den Wipfeln uralter Laubbäume huschte ein sechzehnfüßiges Wesen entlang. Es hatte acht Köpfe und orientierte sich an der sanft geschwungenen Uferlinie eines im Mondlicht schimmernden Sees. Diesen Eindruck mochte ein Beobachter gewinnen, der nicht über so scharfe Augen wie die Zeridianer verfügte.
Grübelnd führte Taramis seine Gefolgschaft durch den nächtlichen Park, obwohl er sich weniger denn je als ihr Anführer fühlte. Was Marnas gerade mit Oban getan hatte, bestätigte ihn darin. Es mochte vernünftig gewesen sein, vermutlich sogar barmherzig, trotzdem hätte er es nicht gekonnt. In diesem Moment hatte er den Mann gefürchtet, den er fast wie einen Vater liebte. War es die Pflicht von Vätern, solche Entscheidungen zu treffen? Dann würde er diese Stufe der Führerschaft nie erreichen.
Der Hüter von Jâr’en hatte darauf bestanden, Masor beim Tragen von Aragor zu unterstützen. So könne er am besten über den Verletzten wachen. Gabbar und Zur hatten sich des toten Hauptmannes angenommen. Der Weg zur Drachenkröte geriet für alle zu einem aufreibenden Marsch. Weniger wegen der zusätzlichen Lasten, die ein schnelles Vorankommen erschwerten, sondern weil die Palastwache ihnen dicht auf den Fersen war. Der Vorsprung zu den Verfolgern schrumpfte rasch, wie der Klang ihrer Signalhörner verriet.
Pyron schloss zur Spitze auf und raunte: »Wir können Oban und Aragor nicht weiter mitschleppen.«
»Das habe ich nicht gehört«, erwiderte Taramis zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. »Wir lassen niemanden zurück.«
»Aber wir haben uns am Grabhaus so verausgabt, dass wir uns in einem weiteren Kampf kaum noch mit unseren Geistwaffen verteidigen könnten. Aragor liegt
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