Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Augenblicke verwandelte sich Mobula für die Dagonisier in einen tödlichen Fluch. Ehe irgendjemand Alarm geben konnte, stieß sie auf die Insel herab und wischte mit den vergleichsweise feinen und sensiblen Enden ihrer Fangarme die Unterkünfte der Bewacher weg. Im Nu war eine Seite des Lagers dem Erdboden gleichgemacht.
Taramis wurde übel, während die gigantischen Tentakel ihr tödliches Werk verrichteten. Sie fegten die Dagonisier hinweg wie Spreu von der Dreschtenne. Er war zu weit von den Todgeweihten entfernt, um ihre Schreie zu hören. So viel Macht sollte nicht in den Händen eines Menschen liegen, dachte er. Trotzdem hielt er nicht inne. Die Sicherheit der Gefangenen hing von seinem entschlossenen Handeln ab.
Als Nächstes nahm er sich die Wachttürme vor. Mobula zerstörte sie gleichsam mit einem Fingerschnippen. Hiernach kam der Turm von Zin an die Reihe. Der Kalmar legte einige Saugnäpfe an dessen Mauern, riss das Bauwerk aus den Fundamenten und schleuderte die Trümmer ins Ätherische Meer. Den Rest zerrieb er zu Staub.
Zum Schluss hielt Mobula Nachlese unter den versprengten Soldaten. Sie tat es, ohne dass Taramis sie dazu aufforderte. Ihr archaischer Verstand hatte in kürzester Zeit zwischen Antischen und Zeridianern zu unterscheiden gelernt. Erstere pflückte sie von der Insel, Letztere tastete sie nicht an. Erst als keine Gefahr mehr für die Arbeitssklaven bestand, gebot Taramis ihr Einhalt.
»Ihr wisst, was ihr zu tun habt?«, erkundigte er sich bei seinen Gefährten.
»Alle Gefangenen evakuieren. So viele Vorräte und Waffen wie möglich mitnehmen«, wiederholte Gabbar, was sie zuvor besprochen hatten.
Taramis nickte. »Dann los. Mobula setzt euch unten ab.«
»Aber bitte vorsichtig.«
»Sie wird euch so sanft behandeln wie eine Tintenfischmutter ihre Eier.«
»Na herrlich. Jetzt fühle ich mich gleich viel besser.«
Auf einen Befehl ihres Herrn hin legte Mobula einen ihrer Tentakel an das Horn. Ihre Haut war trocken und zerklüftet genug, um den beiden Zeridianern Halt zu geben. Sobald Marnas und Gabbar auf den Fangarm geklettert waren, trug der Kalmar sie nach unten. Eine Weile lang schwebten sie an seinem Riesenauge vorbei und wurden schließlich sanft im Lager abgesetzt. Einige ganz mutige Stammesbrüder hießen die zwei willkommen, kaum dass sie festen Boden unter den Füßen hatten.
Während Marnas und Gabbar die Evakuierung organisierten, brachte Taramis den Kopffüßer behutsam auf Tuchfühlung mit Zin. Mobula schlang ihre kolossalen Arme um die Insel und zog sie ganz zu sich heran.
Kurz darauf begannen ihr die ersten Männer aufs Haupt zu steigen. Der steile Weg führte über die Tentakel hinauf. Einige Zeridianer waren zu geschwächt und mussten von ihren Kameraden gestützt oder sogar getragen werden. Die gigantischen Augen des Kalmars verfolgten das Gewusel mit offenkundiger Neugier. So mörderisch Mobula zuvor unter den Dagonisiern gewütet hatte, so gleichmütig nahm sie nun die friedliche Invasion der Winzlinge hin. Ihr neuer Herr hatte ihr nachdrücklich erklärt, dass es sich nicht um Parasiten, sondern um Nützlinge handelte.
Als die Evakuierung abgeschlossen war, ging gerade die Sonne über Zin auf. Zum letzten Mal. Eintausendsechsunddreißig Arbeitssklaven waren gerettet worden. Niemand kam bei der Befreiung ums Leben und keiner blieb auf Zin zurück. Es war ein Freudentag, der den Namen Taramis unter allen Völkern Beriths unsterblich machte.
»Nun ist es so weit«, murmelte er, als auch Tumba in die Obhut Mobulas zurückgekehrt war. Shúria stand an seiner Seite.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte sie ihn. »Niemals hat ein Mensch eine ganze Insel zerstört.«
»Leider ja. Dagonis braucht das Mosphat von Zin für seine Eroberungen. Wenn wir es ihnen nehmen, verwandelt sich jede Insel mit einer Luftblase für sie in eine uneinnehmbare Festung.«
»Darf ich bei dir bleiben?«
Er nickte ernst.
Sie umklammerte seinen Oberarm mit beiden Händen und rückte dicht an ihn heran. Der Feuerstab schien sie nicht im Geringsten zu irritieren. Spürt sie, dass Ez ihr nicht schaden würde? Wie könnte dieses Mädchen nicht reinen Herzens sein? Taramis schloss die Augen, um sich zu konzentrieren.
Mit einem Mal empfand er eine große innere Ruhe. Die Nähe der schönen Seherin war nicht länger Ablenkung für ihn, sie spendete ihm Kraft. Sein Geist nahm wieder Verbindung mit Mobula auf. Er pflanzte ihr ein Bild in den Sinn, das er ihr bereits auf der Reise gezeigt
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