Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
Reifes der Erkenntnis überall Zugang zum Garten der Seelen verschaffen können. Stattdessen wählte er wie zur Verhöhnung seines Jägers genau denselben Weg, den Taramis und seine Gefährten – samt dem Verräter Bochim – im letzten Jahr genommen hatten.
Oder war er auf diesem Weg gekommen, weil er dem Seelenbaum seines Erzfeindes am nächsten lag?
Während Taramis sein Ippo im lautlosen Gleitflug der leuchtenden Spur folgen ließ, schien sein Herz zu gefrieren. Als er das Ende der Fährte sichtete, erstarrte es ganz. Jedenfalls fühlte es sich für ihn so an.
»Er hat es auf Shúrias Lebensbaum abgesehen«, knurrte er, ehe ihm bewusst werden konnte, welches Geheimnis er damit seinem Freund anvertraute.
Plötzlich zischte ein Pfeil an seinem Gesicht vorbei.
Sofort ließ Taramis sein Ippo nach links ausweichen. Keinen Augenblick zu früh, denn ein zweites Geschoss verfehlte nur knapp den Kirrie.
»Verdammt! Der Fischkopf ist nicht allein gekommen«, fluchte dieser.
»Hätten wir uns eigentlich denken können.« Taramis flog dicht über den Baumkronen eine Schleife. »Kümmere du dich um den Heckenschützen, aber verletze möglichst keine Seelenbäume. Ich muss den Frevler aufhalten.«
Ehe Jagur etwas erwidern konnte, war sein Kampfgenosse schon aus dem Sattel gesprungen; der Waldboden lag mindestens sechzig Fuß unter ihnen.
Taramis ballte seinen Geist, um den Sturz zu verlangsamen. Beinahe sanft landete er im Gras der Lichtung, an der die Symbionten von Shúria und Ari standen. Während er auf den Seelenpartner seiner Frau zueilte, hängte er sich Schélet um, was ihn ein wenig wie eine Kampfschildkröte aussehen ließ. Jetzt hatte er die Hände frei und griff zu Pfeil und Bogen. Die glitzernde Fährte hatte er inzwischen erlöschen lassen, damit sie ihn, nicht vorzeitig verriet. Es stand zu befürchten, dass sein Gegner sie ohnehin längst bemerkt hatte.
Aber wo war er?
Vor dem schlanken Baum mit der fahl gefleckten Rinde und den im Mondlicht silbrig schimmernden Laub jedenfalls nicht.
In den Wipfeln hinter Taramis krachte es plötzlich. Jagur fluchte. Hoch oben in den Blättern blitzte etwas auf. Die Streitaxt des kleinen Recken? Noch eine zweite Stimme war zu vernehmen, sie fauchte wie ein angestochener Leopard. Ein Seelenfresser, der gerade seine Gestalt veränderte?
Instinktiv warf Taramis den Kopf zurück. Über sich entdeckte er, wie aus den Lichtern des Nachthimmels herausgestanzt, einen Schatten mit riesigen ausgebreiteten Fledermausflügeln. Er schien sich rasch aufzublähen. Ein Zioraner? Ohne zu überlegen, schoss Taramis einen Pfeil auf den herabstürzenden Weißblüter ab.
Das geflügelte Wesen legte seine Schwingen an und wich dem Schuss mit einer übermenschlich schnellen Seitwärtsbewegung aus. Im nächsten Moment prallte das Geschöpf gegen ihn, entriss ihm den Bogen und schlug mit seinen scharfen Krallen nach ihm. Er spürte einen brennenden Schmerz an der Brust, als er sich auf dem Boden abrollte, weg von dem Fledermenschen. In einer fließenden Bewegung kam er wieder auf die Beine und hechtete mit einem enormen Satz zur Seite. Im Sprung befreite er Ez aus dem Futteral.
Das Geschöpf kauerte noch an derselben Stelle, wo sie aufeinandergetroffen waren. Aus dem formlosen Klumpen drang ein gänsehauterregendes Knacken.
Taramis entfernte sich vier, fünf weitere Schritte von der Bestie und machte seinen Kampfschild bereit. Im Stillen dankte er dem Drachenhemd, ohne das ihm die Kreatur wahrscheinlich das Fleisch von den Rippen gerissen hätte. Das dunkle, warme Holz des uralten Stabes in der Hand, blieb er stehen und beäugte wachsam den zusammengekauerten Flugmenschen. Für dessen erstaunliche Wendigkeit gab es nur eine vernünftige Erklärung: Der Angreifer musste ein Seelenfresser sein, ein Antisch. Solche blitzschnellen Reaktionen hatte er jedenfalls bislang nur bei Feuermenschen gesehen.
Die Gestalt richtete sich langsam zu ihrer ganzen Furcht einflößenden Größe von etwa zehn Fuß auf. Wie ein bizarrer Halsschmuck standen ihre giftigen Stacheln nach allen Seiten ab. Ihre wurmartigen Barteln zitterten vor Erregung. Nicht nur ihr Körper hatte sich verändert, auch ihre Bewaffnung. Sie trug ein Kurzschwert am Gürtel und streckte ihrem Gegner die mit Widerhaken bewehrten Spitzen eines Dreizacks entgegen.
Und auf ihrem Haupt saß der Reif der Erkenntnis.
Beim Anblick der riesigen Silhouette im Sternenlicht erschauderte Taramis. Rasch beschwor er die Zähe Zeit herauf,
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