Die Zeugin: Thriller (German Edition)
heute Nacht einen Platz zum Schlafen, wo auch der Hund unterkommen kann.« Es war ein großer Gefallen, um den sie ihn da bat, ein Gefallen mit offenem Ende. Und eigentlich erwartete sie, dass er seine Wohnung oder ein Hotel erwähnen würde.
Doch nach kurzem Zögern antwortete er: »Ich möchte nicht, dass dir jemand zu mir oder zu meinem Dad folgt. Du brauchst ein Quartier, mit dem niemand rechnet.«
»Schwebt dir da was Bestimmtes vor?«
»In der Stadt. Hunde sind kein Problem. Du musst dich bloß an meine Anweisungen halten, damit dich niemand beschattet.«
D ie Sonne war hinter den westlichen Hügeln verschwunden und überzog den Himmel mit rosigem Licht. Über den Bergen drängten sich schwere Regenwolken zusammen. Lang sam fuhr Rory auf einer zerbröckelnden einspurigen Straße in die Callahan Ranch, wie sie im Fernsehen geheißen hatte. Oben bildeten Lebenseichen und Platanen einen dichten Baldachin.
Das Areal war inzwischen ein Stadtpark, der bei Einbruch der Dämmerung schloss. Trotzdem war das Schwingtor zur Hauptstraße offen gewesen, als Rory ankam. Seth Colder besaß sicher einen ganzen Werkzeugsatz zum Knacken von Schlössern. Sie fuhr hindurch und zog das Tor hinter sich zu.
Nach eineinhalb Kilometern durch eine breite Schlucht bog sie zwischen Schlaglöchern um eine Kurve und erblickte die verwitterten Überreste der Hollywoodkulissen. Es gab eine Scheune und das alte dreistöckige Haus mit Veranda und Witwensteg, das als Wahrzeichen instand gesetzt worden war. Die Innenaufnahmen für die Serie waren in einem Studio in Burbank entstanden; nur die Außenseite des klassischen alten Gebäudes war als Hauptquartier des mächtigen Callahan-Clans genutzt worden. Schon seit achtzig Jahren wohnte hier kein Mensch mehr. Rory hatte keine Ahnung, ob es überhaupt Strom und fließendes Wasser gab.
Mit abgeschalteten Scheinwerfern fuhr sie nach Seths Anweisungen am Haus vorbei. Kurz darauf näherte er sich bereits mit langen Schritten. In der Denimjacke und den Stiefeln ähnelte er einem der Callahan-Söhne. Fehlte nur noch der Cowboyhut.
Er schob das große Scheunentor auf. Sie steuerte den Subaru hinein und parkte neben seinem Pick-up. Dann ging sie nach hinten und öffnete die Hecktür. Benommen und müde von den Medikamenten, konnte Chiba nur schwach mit dem Schwanz wedeln.
Seth kauerte sich zu ihm. »Hey, Junge. War wohl ein schwerer Tag für dich.«
In der Ecke der Scheune gab es einen Wasserhahn über einem Becken. Als Rory ihn aufdrehte, ächzte und stöhnte die Leitung, doch das Becken füllte sich mit Wasser. Vorsichtig hob Seth den Hund aus dem Auto, trug ihn zu ihr und setzte ihn behutsam ab. Chiba schob den Kopf nach unten und trank. Seth tätschelte ihn zwischen den Schultern.
»Danke.« Neugierig schaute sich Rory um. »Sicherheitsdienst? Wachleute?«
»Da hat sich nichts geändert, seit wir an der Highschool waren. Hier müsste schon was in die Luft fliegen, damit jemand vorbeischaut.«
»Ich versuche, mich zurückzuhalten.«
Nachdem er getrunken hatte, richtete sich Chiba mit zitternden Hinterbeinen unsicher auf. Seth holte einen kleinen roten Handkarren aus der Ecke. Rory breitete das Strandtuch aus, und Seth setzte Chiba hinein. Der arme Hund, der gezogen wurde, statt selbst einen Schlitten zu ziehen, war zu erschöpft, um zu merken, dass diese Bewegungsart seinem Instinkt zuwiderlief. Sie gingen hinaus, und Seth schloss das Scheunentor.
Die Nacht senkte sich herab, und die Eichen am Rand der breiten Schlucht wurden schwarz. Es war unglaublich still.
»Wo schlagen wir unser Lager auf?« Rory fixierte das große Haus. »Ich könnte eine schlechte Kopie von Constance Callahan mimen, wie sie breitbeinig dasteht, Kautabak ausspuckt und Gesindel in die Flucht schlägt.«
Seth grinste. »Schau ich mir gern an.«
Sein Lächeln brachte sie aus der Fassung. Mein Gott, das war das alte Lächeln, das jedes Mal über sein Gesicht glitt, wenn er eine Herausforderung annahm.
»Sie war auch sehr treffsicher mit der Axt«, fügte sie hinzu.
Er wandte sich ab und strebte weiter hinauf in die Schlucht. »Wird allmählich kalt hier draußen. Komm.«
D ie Hütte des Hausmeisters lag hundert Meter weiter oben am Weg unter den Ästen von Lebenseichen. Unter Rorys Füßen knirschten Eicheln. Seth sperrte auf. Drinnen war es kühl, und Chiba hob neugierig den Kopf. Seth stieß die Tür zu und schob den Riegel vor.
Die Läden im Wohnzimmer waren dicht verschlossen. Auf dem Couchtisch stand eine
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