Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Sturmlampe, in der eine bernstein farbene Flamme blakte. Im Kamin brannte ein helles Holzfeuer.
Seth schlüpfte aus seiner Jacke. Zusammen machten sie Chiba ein Bett zurecht. Dann öffnete Seth einen Rucksack und reichte Rory ein Sandwich und eine Flasche Wasser.
»Danke.«
Wortlos ging er vor dem Feuer auf ein Knie und stocherte mit einem Schüreisen zwischen den Scheiten herum. Rote Funken blitzten auf und erloschen.
»Ich hab die Typen überprüft, die an dem Raub beteiligt waren«, erklärte er.
Rory ließ sich im Schneidersitz vor dem Kamin nieder. »Und?«
»Keine Mitglieder von Syndikaten oder Straßengangs in Los Angeles. Halbprofis, die vom größten Geldraub aller Zeiten geträumt und sich dabei voll übernommen haben. Einer ist noch am Tatort gestorben. Ein anderer hat zwar überlebt, aber von einem Kopfschuss einen dauerhaften Gehirnschaden erlitten. Er lebt in einer sicheren Einrichtung für geistig Behinderte. Er hat keine Verwandten mehr, niemanden, der für ihn dem Geld nachjagen würde.« Er hockte sich neben sie. »Der Dritte sitzt in San Quentin seine Strafe als Gefängnisprediger ab. Der größte Fan von Jesus.«
»Glaubst du das?«
»Spielt keine Rolle. Natürlich muss man bei diesen Typen anfangen. Aber sie sind nicht die, die es auf das Geld abgesehen haben.«
»Hast du das wirklich gründlich geprüft?«
»Zwei Telefonate und ein bisschen Computergefummel mit einem Backdoor-Passwort. Ich wollte bloß rausfinden, ob uns irgendein Alarmsignal entgangen ist. Jetzt weiß ich, dass es nicht so ist.«
Sie hatte zwar den ganzen Tag kaum etwas gegessen, war jedoch nicht hungrig. »Riss und Boone also.«
Seths Gesicht war ernst. »Wenn deine Cousins in die Sache verwickelt sind, bedeutet das, dass Lee tatsächlich der vierte Mann war.«
In ihrem Kopf blitzte die Erinnerung an die verstörenden Enthüllungen ihrer Eltern auf.
»Riss und Boone stecken sicher mit drin.«
Im Flackern des Feuers schimmerte Seths Gesicht. Seine dunklen Augen schienen die Flammen einzufangen und zu verstärken.
»Aber sie machen es garantiert nicht allein«, konstatierte Rory. »Mit wem haben sie sich also zusammengetan? Jemandem aus Lees Vergangenheit?«
»Vielleicht. Jedenfalls jemandem mit Verbindungen zu Berufsverbrechern in Las Vegas. Leute, die einen Spieler zu einem Himmelfahrtskommando zwingen können. Dafür braucht man wirklich Macht. Wer hat die?«
»Mal sehen. Es gibt die Mafia. Die Crips und die Bloods, aber irgendwie ist das nicht der Stil von Banden. Dann hätten wir noch Lucy Elmendorfs Mann. Durchgeknallt, keine Verbindungen. Außerdem Grigor Mirkovic, der mit Sicherheit Verbindungen hat und auch nicht davor zurückschreckt, mich und Petra von seinen Schlägern einschüchtern zu lassen. Allerdings sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Lucy und Jared Smith ins Gefängnis kommen, wenn er den Prozess platzen lässt. Nicht zu vergessen die Illuminaten, der Vatikan und der Mormon Tabernacle Choir.« Sie rieb sich die Augen.
»Egal, wer es ist, die Frage bleibt – wie haben Riss und Boone den Kontakt hergestellt?«
Chiba legte den Kopf auf Seths Knie. Seth wirkte ruhig und beherrscht. Er sah aus wie früher und zugleich viel älter, als hätte sich in ihm eine traurigere Seele niedergelassen.
Er bemerkte ihren forschenden Blick. »Noch mal zu dem, was mein Dad vorhin gesagt hat.«
Sie starrte ins Feuer.
»Mir geht’s nicht drum, dich tiefer reinzureiten, sondern dich da rauszuholen.«
»Ich hab nichts gehört.«
Erneut griff er nach dem Schüreisen. »Hast du wirklich so große Angst vor mir?«
»Ich hab schon seit der vierten Klasse keine Angst mehr vor dir.«
»Warum schaust du mir dann nicht in die Augen?« Genauso gut hätte er ihr vom Kamin Funken ins Gesicht fegen können.
Bewusst langsam wandte sie sich ihm zu. »Wollen wir das wirklich tun?«
Er blieb völlig reglos, während der Feuerschein auf seinem Gesicht spielte wie der Flügelschlag von Vögeln.
»Ich meine, wollen wir alles ausspucken, uns die Adern aufschlitzen und sehen, was rauskommt?«
»Ich nehme das zurück. Bist du wirklich so wütend auf mich?«
»Ich bin nicht wütend. Damals, an diesem letzten Abend, da war ich wütend. Ich bin explodiert. Das war falsch.«
Er schwieg kurz. »Redest du von …«
»Vor dem Unfall.«
Die Scheite im Kamin knackten. Der Moment zog sich in die Länge. Es war das erste Mal, dass einer von ihnen das Wort Unfall offen ausgesprochen hatte.
»Ich war total fertig«, fügte Rory
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