Die Zeugin: Thriller (German Edition)
miterlebt, wie ein Vorhang aufgerissen worden und dahinter eine verstörende Wahrheit zum Vorschein gekommen war.
Was sie besonders aufwühlte, waren die Worte ihrer Mom: Vielleicht hat es sie so kaputt gemacht, dass es ihnen egal ist, wenn Rory vor die Hunde geht .
I rgendwann nach dem Unfall hatte sie an einem Abend, unbequem auf einer Seite liegend, im Halbdunkel vor sich hin gedöst. Plötzlich wurde sie von einem Summen geweckt. Eine schwebende Sopranstimme über dem Bett. Erschöpft und mit geschlossenen Augen hörte sie zu. Ein Wiegenlied von Sam? Lieb von ihr. Eine Hand berührte ihr Haar, strich es ihr aus dem Gesicht und legte sich an ihre Wange, als wollte sie Rorys Temperatur prüfen. Das Summen wurde zu leisem Singen. Und es war kein Wiegenlied, sondern »Some Unholy War« von Amy Winehouse. Finger drückten an ihren Hals, um den Puls zu ertasten.
Sie drehte sich um und hatte Riss vor sich.
Ihre Cousine zog die Hand zurück. Ihre Pupillen schimmerten im schwachen Licht. Groß wie die einer Katze, die einen Vogel belauert.
Rorys Herz hämmerte gegen den Brustkorb. »Was machst du da?«
»Du Ärmste«, schnurrte Riss. »Du bist ja total am Ende.«
»Warum bist du hier?«
»Wollte es nur selber sehen.« Riss stellte eine Genesungskarte auf den Nachttisch und musterte Rory von oben bis unten. Sie schüttelte den Kopf. »Ein trauriger Anblick, Schätzchen. Traurig, wirklich traurig.« Sie beugte sich über das Bett.
Rory wich zurück. »Hey …«
Doch Riss legte einen Finger vor die Lippen und küsste Rory auf die Stirn. Dann drückte sie den Mund an Rorys Ohr. »Karma ist ein Miststück, ich hab dich gewarnt.«
Rory konnte kaum noch schlucken. Sie tastete nach dem Schwesternruf. Sie wollte Riss nicht in die Augen sehen, wagte es aber nicht, den Blick abzuwenden.
»Du muss lernen zuzuhören, sonst wird es nicht besser«, flüsterte Riss.
»Raus.«
J etzt saß sie im Auto, die Hand am Zündschlüssel. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie eingestiegen war. Ihr Telefon klingelte.
Die Nummer kannte sie nicht. Sie meldete sich und war erstaunt, die Stimme ihrer Nachbarin zu hören.
»Hier Andi Garcia. Ich bin vorhin an deinem Haus vorbeigefahren und habe bemerkt, dass das Gartentor offen ist. Hab mir nichts dabei gedacht, bloß jetzt bin ich kurz vor der Autobahnabfahrt Cloud Canyon und sehe, dass dein Hund hier frei rumläuft.«
»Chiba?«
»Großer Hund mit einem Husky-Anteil?«
Rory ließ den Wagen an. »Ist er auf dem Highway?«
»Er jagt Eichhörnchen. Und es ist starker Verkehr.«
»Ich komme.«
»Ich hab ihn gerufen, aber er hat mich nicht beachtet.«
»Er hört schlecht.« Rory legte den Gang ein. »Bin schon unterwegs. Fünf Minuten.«
Als sie auf der Cloud Canyon Road zum Highway raste, entdeckte sie Andis parkendes Auto neben der Ausfahrt. Von Chiba keine Spur. Sie stoppte und sprang hinaus, um mit völlig verkrampftem Magen in alle Richtungen zu spähen. Die Luft hatte stark abgekühlt und war erfüllt vom Rot des Sonnenuntergangs. Einige Autos hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet.
Die Ausfahrt war fünf Kilometer von ihrem Haus entfernt. Was trieb Chiba hier draußen?
Dann erkannte sie ihre mollige Nachbarin in knallroter Caprihose im Gras neben der Ausfahrt, etwa hundert Meter hinter ihrem Auto. Rory rief und winkte.
Andi deutete auf den Highway und wölbte die Hände um den Mund. »Er ist auf dem Mittelstreifen.«
Mit steifen Beinen rannte Rory los. Schließlich erblickte sie Chiba ungefähr zweihundert Meter hinter Andi. Er stand auf dem breiten Grasstreifen zwischen den beiden dreispurigen Autobahnen.
»O nein.«
Gerade in diesem Moment herrschte glücklicherweise kaum Verkehr, aber das Licht war schlecht. Es gab keine ein fache Möglichkeit, den Hund einzufangen. Über den Highway zu laufen war riskant, doch das Gleiche galt für das Anhalten des Wagens auf der linken Spur. Ganz zu schweigen davon, dass es verboten war.
Verdammt, wie kam Chiba überhaupt hierher?
Der Hund trottete im Gras dahin. Dann näherte er sich dem Asphalt, als wollte er einfach zurück über die Fahrbahn ren nen. O Gott, er merkte überhaupt nicht, wie gefährlich das war.
Ein VW näherte sich am Tempolimit und bremste nun scharf. Der Fahrer drückte auf die Hupe, und Chiba sprang zurück. Der VW brauste weiter.
Kurzatmig und mit roten Wangen kam Andi angelaufen. »Was willst du jetzt machen?«
»Kannst du rüber zur Auffahrt auf der anderen Seite fahren und dort warten, um
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