Die Zeugin: Thriller (German Edition)
hätte er sich noch nicht endgültig festgelegt. Das Haus der Colders war gepflegt mit einer überdachten Veranda und ordentlichen Rosenbeeten. In der Einfahrt parkte ein alter Chrysler New Yorker. Ein Aufkleber forderte: UNTERSTÜTZT DIE REGIONALE POLIZEI. Schließlich stiegen sie aus und gingen zur Tür, neben der ein Schild hing: VERGISS DEN HUND: WARNUNG VOR DEM ALTEN.
Lucky führte ein stilles Leben, doch das war nicht immer so gewesen. Als Kind hatte Rory davon nichts gewusst. Erst viele Jahre später erzählte ihr Seth, dass sein Vater mit dem Alkohol gekämpft hatte und die Ehe seiner Eltern fast gescheitert wäre, ehe Lucky nüchtern wurde. Inzwischen war er schon lange Mitglied bei den Anonymen Alkoholikern. Seit dem Krebstod von Seths Mutter vor fünf Jahren lebte er allein.
»Wie geht es ihm?«, fragte Rory.
Seths Ausdruck war leicht zu deuten: Finden wir es raus. Er klopfte.
Knarrend näherten sich von drinnen Schritte. Dann öffnete sich die Tür. Lucky Colders Miene blieb reglos, fast hölzern, und einen Moment lang fürchtete Rory, dass er die Tür gleich wieder zuknallen würde. Die Halbbrille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, und er hatte eine Zeitung in der Hand. Er trug eine gepflegte Hose, Rockport-Schuhe und ein kurzärmeliges Hemd. Und Hosenträger.
Auf einmal erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht und er klopfte Seth auf die Schultern. »Verdammt, ich war schon ganz darauf fixiert, die Zeugen Jehovas mit meinen messerscharfen Argumenten in die Flucht zu schlagen.« Dann wandte er sich Rory zu und schüttelte den Kopf. »Ja, wen haben wir denn da! Gütiger Himmel, was für ein Tag.«
»Hallo, Mr. Colder.«
»Um Gottes willen, Mädchen, sag Lucky zu mir. Komm her.« Lachend schloss er sie in die Arme und drückte sie fest. Er roch nach Rasierwasser. Eine Sorte, die schon seit 1968 im Regal stand. Hai Karate?
Er hob den Kopf und beäugte sie durch seine Halbbrille. »Du siehst fabelhaft aus.«
»Du auch, du alter Fuchs«, antwortete sie mit einem schiefen Grinsen.
Bestimmt platzte er schon vor Neugier. Vielleicht beunruhigte es ihn sogar, sie zusammen mit Seth zu sehen. Doch seine Begeisterung wirkte ungekünstelt und ehrlich. Sie fühlte sich willkommen.
Sein Gesicht wurde ernst. »Alles klar bei dir? Hab gestern die Nachrichten gesehen.«
»Hab nichts abgekriegt.«
»Schreckliche Sache. Furchtbar.« Luckys Blick glitt zu seinem Sohn und wieder zu Rory. »Seid ihr deswegen hier?«
Sie nickte.
Er führte sie in das noch immer mit Kiefernimitat getäfelte Wohnzimmer. »Deine Eltern haben gestern sicher Höllenqualen ausgestanden.«
»Rory ist nichts passiert«, sagte Seth.
»Der schlimmste Albtraum für Eltern, selbst wenn das Kind schon erwachsen ist. Da fangen sogar die härtesten Knochen an zu beten.«
Seth senkte den Blick.
»Ja«, antwortete Rory. »Mom hat einen Santería-Altar gebaut, und Dad hatte eine riesige Jesusskulptur aus Butter geformt, als ich heimkam.«
Lucky lachte schallend. »Arbeitet dein Dad noch als Forest Ranger?«
»Natürlich, aber inzwischen mehr am Schreibtisch als an der frischen Luft.«
Lucky räumte Zeitungen vom Sofa. »Nimm Platz. Seth, kannst du mir schnell mit dem Kaffee helfen?«
Beide trabten hinüber in die Küche. Rory setzte sich. Das Wohnzimmer war so, wie sie es im Gedächtnis hatte. Das grüne Karosofa. Der Couchtisch mit der Scharte – Opfer der Steinschleuder, mit der Seth Kugeln durch die Gegend gefeuert hatte. Eine Wand komplett mit Fotos bedeckt, die Rahmen staubig. Belobigungen der Polizei von Ransom River. Schulbilder von Seth und seinen drei älteren Brüdern. Alle hatten dunkelblondes Haar und braune Augen, doch nur Seths Aufnahme verriet rastlose Energie.
Hinzugekommen war lediglich ein zwanzig auf fünfundzwanzig Zentimeter großes Bild von Seths Mutter in einem Silberrahmen über dem Fernseher.
Kein einziges Foto zeigte Seth zusammen mit Lucky. Und auch in Polizeiuniform war Seth nirgends zu sehen.
In der Küche suchte Lucky Becher und Löffel heraus. Seth blieb bei der Tür. Lucky sprach flüsternd, doch Rory hörte: … so überraschend, hätte ich nie erwartet und geht mich ja nichts an, aber …
Schließlich drückte Lucky seinem Sohn einen Milchkarton in die Hand, und sie kehrten zurück ins Wohnzimmer. Lucky reichte Rory einen Becher, an dem sie vorsichtig nippte. Der Kaffee war so stark, dass ihre Nerven schwirrten wie ein Radargerät. Seth schlenderte zum Fenster und schaute hinaus.
Lucky
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