Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Lucky spähte durchs Fenster nach Seth, der neben dem Pick-up auf und ab lief. »Alles ist gleichzeitig über ihn hereingebrochen.« Er verstummte.
Zum Glück schaute er sie nicht an. Sie war Teil von allem. Trotzdem wusste sie nicht, wovon genau er da eigentlich redete. Noch immer war er völlig reglos. Wenn sie gerade ins Zimmer getreten wäre, hätte sie denken können, dass man ihm ein Messer in den Rücken gerammt hatte. »Lucky?«
Er schüttelte den Kopf. »Es war wahnsinnig schwer für ihn, Abstand zu gewinnen. Das passierte ja ganz kurz nachdem …«
Die Luft fühlte sich plötzlich zäh an. »Nachdem ich die Stadt verlassen hatte?«
»Alles war wie ein Meer von Flammen um ihn herum.« Luckys Stimme klang heiser. »Er hat jemanden gesucht, an dem er seine Wut auslassen kann. Einen Sündenbock. Er kann nicht verzeihen. Zumindest hat er es nicht geschafft loszulassen. Vor allem aber kann er sich selber nicht verzeihen.« Endlich wandte er ihr seinen traurigen, bekümmerten Blick zu.
Benommen saß sie da. »Lucky, das ist mir alles völlig neu. Seth hat mir nichts von einem Brand erzählt.«
Draußen beendete Seth sein Telefongespräch und kehrte zum Haus zurück.
Lucky schien zu überlegen, ob ihm noch genug Zeit blieb. »Und was ist mit euch beiden?«
»Sobald ich es weiß, sag ich dir Bescheid.«
Schmerz zog über sein Gesicht. Tief und verzehrend. Die Erinnerung an Seths gescheiterte Operation und die Verletzungen, die er dabei erlitten hatte, machte Lucky offenbar schwer zu schaffen.
»Was ist denn damals eigentlich genau passiert bei …«
In diesem Augenblick kam Seth herein und schien die emotionale Temperatur im Wohnzimmer sofort zu erfassen. Sein Blick huschte von seinem Dad zu Rory. »Entschuldigt bitte die Unterbrechung. Das war ein Kontaktmann. Ich versuche, mehr über Sylvester Church und Kevin Berrigan zu erfahren. Er arbeitet daran.«
»Kontaktmann?«, fragte Lucky.
Seth ging nicht ins Detail. Um das verlegene Schweigen zu überspielen, fing er wieder an, auf und ab zu tigern.
»Halt doch mal still, Junge.«
Seth blieb in Bewegung.
»Du machst mich noch seekrank. Setz dich hin und hör mir zu.«
Widerstrebend ließ sich Seth auf der Sofalehne nieder. »Und?«
»Ihr meint also, dass das Motiv für den Überfall Geld ist?«
»Ja«, antwortete Rory.
Lucky stellte seinen Becher ab. »Wollt ihr meinen Rat? Haltet euch da raus.«
»Dad.« Seths Ton war scharf.
»Lasst die Finger davon.«
»Nein.«
»Ihr kriegt bloß Scherereien, wenn ihr euch in die Sache verbeißt.«
»Vergiss es. Das ist keine Schnitzeljagd bei einer Geburtstagsparty«, erwiderte Seth.
»Das ›große Geld‹, sagt ihr. Ein planvoller Überfall von schwer Bewaffneten auf ein gut gesichertes öffentliches Gebäude. Tote und Verletzte.« Lucky wirkte nicht nur nachdenklich, sondern grimmig. »Glaubt ihr wirklich, dass ihr da auf eigene Faust was erreichen könnt? Das ist Irrsinn.« Er kniff die Lippen zusammen. »Und gefährlich. Sei doch vernünftig, Junge. Man muss sich die richtigen Gegner aussuchen.«
Rory griff ein. »Aber dieser Gegner hat mich ausgesucht. Ich kann kämpfen oder aufgeben. Und ich gebe nicht auf. Da hat jemand ein Loch für mich gegraben und will mich drin verscharren. Darauf hab ich keine Lust.«
In Luckys Gesicht arbeitete es. Er schien hin- und hergerissen. Dann setzte er sich gerade auf. »Also schön. Ihr wollt wissen, worauf die Bewaffneten aus waren. Wo das große Geld ist. Tja, da kommt nur eins in Frage.« Er schaute Rory an. »Der Überfall auf den Geronimo-Geldtransporter. Als ihr klein wart.«
»Sag das noch mal.« Seth stand auf.
»Der Raubüberfall. Keine fünfzehn Kilometer von hier. Die Gangster sind mit fünfundzwanzig Millionen Dollar geflüchtet. Und das Geld wurde nie gefunden.«
30
»Das ist doch schon fast zwanzig Jahre her.«
»Genau zwanzig Jahre am nächsten 12. Februar«, bestätigte Lucky.
Dieser Raubüberfall war in die Annalen von Ransom River eingegangen. Er stand ganz oben auf der Liste der denkwürdigen Ereignisse, zusammen mit der Callahan Ranch und dem großen Feuer, das wochenlang in einem Berg entsorgter Reifen hinter einem Autoschrottplatz getobt hatte. Der Überfall war sogar bedeutender als der Zusammenstoß des Festwagens der Ballkönigin mit einer Tankstelle bei der Homecoming-Parade.
»Ja, ich weiß noch«, sagte Seth.
»Der Meteoritenschauer«, ergänzte Rory.
Damals hatten sie das Blitzen der Polizeilichter in der Nacht bemerkt. Und
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