Die Zeugin: Thriller (German Edition)
nichts tun und sind wieder abgereist.«
Lange schaute Seth sie nur schweigend an. »Das ist alles?«
»Ja, das ist alles. Zurück in Bulawayo haben wir eine Maschine nach Harare genommen, dann ging es weiter mit British Airways nach Heathrow.«
»Und warum bist du dann auf einmal blass wie eine Leiche?«
Wieder flammten die Bilder in ihr auf, und sie roch den Rauch an Sarahs Kleid und hörte das helle Lachen der kleinen Grace. Vier Jahre alt. Wild rennend, auf der Jagd nach ihrem kleinen Bruder. Voller Lebensfreude. Abgemagert zwar, aber ein strahlendes Lächeln im Gesicht.
»Hat nichts mit mir zu tun. Unsere Gruppe hatte nicht die geringsten Probleme.«
»Aber?«
Mit leerem Blick starrte sie auf den Fernseher. »Wir hatten vor, beim britischen Außenministerium Berufung für die Familie einzulegen …«
»Rory?«
»Dann verlor Asylum Action die Finanzierung.«
Vier Jahre alt. Sie schloss die Augen und schluckte alles hin unter. Spürte, wie Seth näher kam und zögernd vor ihr stehen blieb. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und wich ihm aus. »Der Überfall auf das Gericht hat nichts mit diesem Fall zu tun. Simbabwe geht nicht gegen eine Flüchtlingshelferin wie mich vor, nachdem sie nach Kalifornien zurückgekehrt ist. Das ist eine lächerliche Vorstellung.«
»Rory.«
»Das Ganze ist doch eine Farce.«
»Hey.«
Sie wandte sich zu ihm um. »Wir leben in einer kranken Welt, Seth. Aber diese Krankheit ist nicht der Grund für meine momentanen Probleme. Also erzähl mir, was du dir sonst noch überlegt hast.«
Er zögerte, als wäre sie eine instabile und möglicherweise explosive Substanz.
Zwei Jahre bei Asylum Action. Zwei Jahre, und was hatte sie in dieser Zeit bewirkt?
Und was hatte Seth in dieser Zeit getrieben?
»Los«, sagte sie.
»Dieser Überfall … Wenn sie es auf dich abgesehen hatten, dann stellt sich die Frage nach dem Grund. Und dazu fällt mir immer wieder nur eins ein. Es geht nicht nur um dich, sondern um deine Familie und um Ransom River.«
»Was?«
»Rory, du bist hier aufgewachsen, hast einen Sack voll Pokale gewonnen und bist dann aus der Stadt abgehauen. Sonst nichts. Wieso sollten diese Kerle ausgerechnet dich entführen wollen?«
»Und was soll das Ganze mit meiner Familie zu tun haben?«
»Das müssen wir rausfinden.«
Allmählich verlor sie die Geduld. »Warum glaubst du, dass es an meiner Familie liegt? Es könnte doch auch an dir liegen.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Immerhin reden wir hier über Kriminelle, und du bist der Exbulle. Das ist dein Milieu.«
Über seine Lippen huschte ein unverhofftes Lächeln. »Dich muss man ja schon für deinen Wortschatz lieben.«
»Dein Jagdrevier. Dein Scheißehaufen. Der Schleim, in dem du schwimmst.«
Beschwichtigend hob er die Arme. »Die Auftraggeber der Bewaffneten müssen hinter dem großen Geld her sein. Richtig?«
»Richtig.«
»Du bist nicht reich. Deine Eltern auch nicht.«
»Wohl kaum.«
Sie ahnte, worauf er hinauswollte, und stellte den Becher ab. »Wo ist dann die Kohle?«
»Das ist die Frage.«
»Hast du eine Idee, wo wir Antworten bekommen?«
»Ja.« Seine Miene verfinsterte sich. »Bei jemandem, der garantiert nicht darüber reden möchte. Vor allem nicht mit mir.«
»Jemand von der Polizei?«
»Mein Dad.«
29
Lucky Colder lebte in einem der ältesten Viertel von Ransom River unter mächtigen Lebenseichen in der Nähe des Hügels, der die Stadt vom San Fernando Valley und der rastlosen Energie von Los Angeles trennte. Die Häuser waren in den Vierzigerjahren errichtet worden, als die Luftfahrt Einzug in den Ort hielt. Später war eine beliebte Westernserie fürs Fernsehen dort gedreht worden. Die meisten Kulissen waren längst verschwunden, doch die Callahan Ranch – so auch der Titel der Reihe –, wo die Matriarchin breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Händen auf der Veranda stand, während ihre sieben Söhne ausritten, um Rinder und menschlichen Abschaum zu bändigen, war als Stadtpark erhalten worden. Die Serie selbst schlummerte irgendwo in den Archiven und wartete auf ihre Auferstehung als Kultklassiker.
Seth fuhr langsam, fast widerwillig. Die Bäume hier wirkten wuchtiger, die Häuser geduckter.
»Wie lang ist es her, dass du deinen Dad zuletzt gesehen hast?«, fragte Rory.
»Länger, als ihm lieb ist.« Er lächelte. »Letzten Monat.«
Er stoppte am Straßenrand. Exakt an der Stelle, wo er seinen Wagen immer abstellte. Doch er ließ den Motor noch laufen, als
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