Die Zeugin: Thriller (German Edition)
am nächsten Tag hatten sie in der Schule die Gerüchte gehört – Jungen und Mädchen, die sich aufge regt etwas von Bankräubern zuflüsterten. In den Nachrichten standen Reporter vor dem gelben Absperrband und berichteten mit ernster Erwachsenenstimme von einer Schießerei. Ihre Eltern hatten wie gebannt auf den Fernseher gestarrt. Und auch Rory war fasziniert: eine Schießerei.
»Ein Geldtransporter wurde überfallen und ausgeraubt.« In Rory wurden Erinnerungen wach. Die Nacht damals. Das Baumhaus.
»Weißt du sonst noch was drüber?«, fragte Lucky.
»Ich war damals neun.«
»Was war so besonders an diesem Raub, Dad?«
»Abgesehen von den fünfundzwanzig Millionen?«, warf Rory ein. »Das ist wahrscheinlich eine Menge im Vergleich zu einem durchschnittlichen Banküberfall in L. A. County.«
»Das Geld sollte zu einer Anlage der Federal Reserve gebracht und dort vernichtet werden.«
»Warum?«, fragte Rory.
»Kennst du den Lebenszyklus von Geld?«
»Nein. Ich hab keins.«
»Wartet mal kurz.« Lucky schob sich hoch und trottete hin über ins Schlafzimmer. Sie hörten, wie eine Kommodenschub lade aufgezogen und wieder geschlossen wurde. Er kehrte mit einem schmalen Bündel Banknoten zurück, die um eine Geldklammer gefaltet waren. Wohl sein Notgroschen, vermutete Rory.
»Papiergeld hält nicht lange«, erklärte er. »Normaler Verschleiß. Und je kleiner der Wert, desto schneller nutzen sich die Scheine ab.« Er zog die Banknoten von der Klammer. »Ein Dollar ist schon nach eineinhalb Jahren hinüber.«
Der Schein in seiner Hand wirkte weich und abgegriffen. Durch George Washingtons Gesicht lief eine starke Falte.
»Bei Fünfern und Zehnern ungefähr die gleiche Lebensdauer.« Er reichte ihr die Eindollarnote und hielt einen Zwan ziger hoch. »Der hier hält zwei Jahre.« Auch den gab er ihr und präsentierte einen Fünfziger. »Der ist nicht so häufig und bleibt deswegen länger in Umlauf.« Schließlich strich er einen Hunderter glatt, bis Benjamin Franklin sie anlächelte. »Der hier macht es bis zu sieben Jahre.«
»Verstehe.«
»Wenn ein Schein beschädigt oder so abgenutzt ist, dass man seinen Wert nicht mehr richtig erkennt, wird er von der Federal Reserve durch einen neuen ersetzt.« Noch immer hielt er ihr den Hunderter hin.
»Ist was damit?«, fragte Rory.
Lucky wandte sich zu seinem Sohn um.
»Wird das eine Quizrunde?« Dann sah Seth es. »Das ist ein älteres Motiv.«
Lucky nickte und legte die Banknote auf den Tisch. »Ein Klassiker.« Nun zeigte er ihnen den letzten Schein aus dem Bündel – eine neuere Version.
Der Unterschied sprang sofort ins Auge. Franklins Porträt war deutlich größer und nach links verschoben. Die Farbgestaltung war feiner und aufwendiger.
»Maßnahmen zur Verhinderung von Fälschung«, erläuterte Lucky. »Ein andauernder Kampf zwischen dem Schatzamt und Fälschern auf dem ganzen Planeten. Als Nächstes plant der Staat ein Modell mit 3D-Sicherheitsstreifen, die einem die Freiheitsglocke entgegenspringen lassen, wenn man den Schein schräg hält. Die Glocke ist zuerst grün und wird dann kupferrot.« Ein gerissener Ausdruck trat in sein Gesicht. »Auf der ganzen Welt wird keine Banknote so oft gefälscht wie ein Hundertdollarschein aus den USA .«
»Warum hast du überhaupt noch den alten Schein, Dad? So knauserig bist du doch auch wieder nicht.«
»Ich warte noch immer darauf, dass du ihn dir verdienst – oder einer von deinen Brüdern.«
Seths Grinsen wirkte nicht unbedingt belustigt.
Lucky erklärte es Rory. »Ich hab meinen Jungs gesagt, wer als Erster von ihnen die Bill of Rights auswendig kann, kriegt hundert Dollar. Hat mich nicht gewundert, dass die Älteren es nie geschafft haben. Aber der hier …« Er deutete mit dem Kinn auf Seth. »Eigentlich dachte ich, dass sich ein junger Mann, der Polizeibeamter werden will, für Bürgerrechte interessiert.«
Vielleicht war die Bemerkung als Witz gedacht, doch Seth wurde rot und schaute zum Fenster hinaus.
Luckys Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er steckte die Scheine wieder in die Klammer. »Abgenutztes Papiergeld wird von der Federal Reserve ausgetauscht. Jede Bankfiliale sortiert beschädigte Scheine aus. Sie werden gesammelt und durch druckfrische ersetzt. Die untauglichen Banknoten – schmutzig, zerrissen, unleserlich – bringt man in Schredderanlagen.«
»Und das geraubte Geld war auf dem Weg in den Schredder«, warf Rory ein.
»Die Anlage war im Osten von Los Angeles
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