Die Zeugin: Thriller (German Edition)
erwähnt wurde – plötzlich erschien ihr der für die Mackenzies typische Umgang mit Emotionen in einem völlig neuen Licht.
In der Nacht des Meteorschauers hatten sie und Seth sich eine Stunde lang draußen vor Freddy Krueger versteckt und waren erst danach durchs Fenster zurück in ihr Zimmer geklettert. Sie hatte angestrengt gelauscht, doch im Haus war es totenstill. Am Morgen beim Frühstück sagte sie: »Gestern Nacht hab ich ein Geräusch gehört.«
»Das war nichts«, antwortete ihre Mom.
»Da stand ein Lieferwagen draußen. Ein Typ ist ausgestiegen.«
Das Lächeln ihrer Mutter glich dem Grinsen eines Halloweenkürbisses. »Das war ein Kollege von deinem Dad. Er war betrunken. Musste sich bloß ausschlafen.« Dann erhob sie sich, trug ihr Geschirr zur Spüle und verließ die Küche.
Wie zufällig tauchte jetzt mit plastischer Deutlichkeit das Bruchstück einer Erinnerung auf. Ihre Mom, die nach dem Grillfest am Memorial Day in Rorys Zimmer kam, um ihr Gute Nacht zu sagen. Nachdem Boone und Riss gegangen wa ren. Nachdem Onkel Lees Postkarten von der Pinnwand gerissen worden waren.
Lächelnd war Sam hereingeschlendert. Rory saß mit einem Buch auf ihrem Bett. Sam küsste sie auf den Kopf und strich ihr das Haar glatt. »Lies nicht zu lang.« Rory nickte, sie war immer noch aufgewühlt und verstört. Sam trat zurück, und ihr Blick streifte die Pinnwand. Die Reißnägel, unter denen nur noch kleine Fetzen der Postkarten hingen. Rory wartete, dass ihre Mom sich dazu äußerte. Sie selbst wollte ihre Cousins nicht erwähnen. Wollte keine große Sache daraus machen. Damit alles schön ruhig blieb. Schsch. Alles in Ordnung.
Einen Moment lang starrte Sam unsicher auf die Pinnwand, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Schlaf gut, Liebling.« Damit wandte sie sich ab und ging.
Was hatte sich Sam wohl gedacht? Dass Rory die Postkarten heruntergerissen hatte? Sie verloren nie ein Wort darüber. Eine von diesen Sachen, die unkommentiert blieben, weil die Familie davon ausging, dass sich ihr emotionaler Gehalt von allein auflösen würde.
Danach kamen keine Postkarten mehr von ihrem Onkel. Der Vorrat an der Pinnwand wurde nie aufgestockt.
Allerdings wusste Sam nicht, dass Rory noch eine Postkarte von Lee in ihrer Schreibtischschublade hatte. Sie war besonders farbenprächtig und abenteuerlich, und Rory hatte sie als spezielle, geheime Nachricht von ihrem Onkel aufbewahrt. Diese Karte hatten Boone und Riss nicht zerstört. Und soweit sie wusste, lag die Postkarte auch heute noch in ihrem alten Schreibtisch oder in einer Schachtel im Wandschrank bei ihren Eltern.
Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken. Lee hatte seine Familie nicht verlassen. Er war geflohen.
P lötzlich spürte sie die forschenden Blicke von Seth und Lucky und atmete tief durch. »Was machen wir jetzt?«
»Ich rufe beim Revier an, damit sie die Geronimo-Akte rausholen«, antwortete Lucky.
»Nein«, widersprach Seth.
Betroffen lehnte sich Lucky zurück. »Ich gehöre noch nicht ganz zum alten Eisen. Ich arbeite in einem Team von Oldies – wir nehmen uns von Zeit zu Zeit ungelöste Fälle vor. Und das ist ein ziemlich großer Fall.«
»Trotzdem. Jetzt noch nicht.«
»Irgendjemandem musst du vertrauen, Junge.«
»Dad, ich vertraue dir. « Seth wirkte gekränkt. Dann trat er zum Sofa und legte Lucky die Hand auf die Schulter. »Lass mich einfach noch ein bisschen überlegen.«
Rory stand auf. »Seth hat recht. Besser, du gräbst die Akte fürs Erste noch nicht aus.«
Lucky machte ein bedauerndes Gesicht. »Wenn dein Onkel die Finger im Spiel hatte, wird das irgendwann rauskommen. Davor kannst du deine Eltern nicht schützen. Und auch deine Tante nicht.«
»Das will ich gar nicht. Ich will die Wahrheit rausfinden. Und wenn Lee beteiligt war, muss er die Konsequenzen tragen. Aber zuerst möchte ich mit meinen Eltern reden.« Sie nickte Seth zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie aufbrechen wollte. Dann wandte sie sich noch einmal an Lucky. »Danke für deine Hilfe und deine Aufrichtigkeit.«
»Tut mir leid, dass ich dir schlechte Nachrichten überbracht habe.«
»Es ist, wie es ist. Das hat nichts mit dir zu tun.« An der Tür umarmte sie ihn.
Unbeholfen drückte er sie an sich. Dann wandte er sich vorsichtig seinem Sohn zu. »Schön, dass du dich mal hast blicken lassen.« Nach einer verlegenen Pause klopfte er Seth herzhaft auf die Schulter: der große amerikanische Kumpelklaps, wie Rorys Dad gesagt hätte.
Gerade
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