Die Zeugin: Thriller (German Edition)
so schnell. Ich hab einfach die Übersicht verloren. Außerdem haben sie erwähnt, dass sie ›geliefert‹ sind, wenn sie sich nicht an den Plan halten. Und von einer ›Tussi‹ war die Rede.«
»Falls sie damit dich gemeint haben und hinter dem Geld her waren …«
»Dann ist Lee derjenige, den sie rauslocken wollen.«
Tief in Gedanken versunken, nickte Seth.
Rorys Puls pochte heftig. »Aber wenn sie ein Faustpfand brauchen, um Lee aus seinem Versteck zu locken, warum suchen sie dann seine Nichte aus?«
»Statt seine eigene Familie.«
»Vielleicht wollen sie Lee nicht so hart zusetzen? Oder Amber?«
»Rory.« Seth verzog den Mund. »Wir sprechen hier von Leuten, die zwei Bewaffnete losgeschickt haben, um einen Gerichtssaal bei laufendem Verfahren zu stürmen. Da spielt Rücksichtnahme garantiert keine Rolle.«
Sie musste ihm recht geben. »Du möchtest sicher nicht abwarten, bis ich meinen Eltern die Familiengeschichte aus der Nase gezogen habe.«
»Nein. Ich muss mehr über die Männer erfahren, die den Überfall verübt haben. Einer ist tot, zwei sitzen im Gefängnis. Vielleicht stoße ich auf irgendwas, wo wir ansetzen können.« Er wirkte ernst. »Zwei Häftlinge, die nach zwanzig Jahren rauskommen und glauben, dass ihr Partner Lee mit den Millionen abgehauen ist, während sie die Suppe auslöffeln mussten – das ist ein Motiv.«
»Was du nicht sagst.«
»Trotzdem, sprich mit deinen Eltern.«
»Wird bestimmt lustig. Als würde ich meine Hand in einen elektrischen Brotschneider stecken.«
Auf sein Gesicht trat ein versonnener Ausdruck. »Ich hab deinen Onkel nie kennengelernt. Warst du so was wie seine Lieblingsnichte?«
»Du meinst, würde er auftauchen, um mich zu retten, wenn ich entführt werde?«
»Ja.«
»Manchmal hat er eine Münze hinter meinem Ohr vorgezaubert. Und er nannte mich immer Aurora. Hat mir erzählt, dass das Morgenröte bedeutet. Dass ich die aufgehende Sonne bin.«
Seth sah sie an. »Er hat dich geliebt.«
»Ich glaub schon.«
»Und du hast ihn geliebt.«
»Ich war noch ein Kind.«
»Umso reiner.«
Sie fuhren an der Avocadoplantage vorbei. Die Bäume glänzten grün in der Sonne. Nach einer Weile endete die Musik im Radio.
»Noch mal kurz zur Polizei«, sagte Seth.
»Du möchtest nicht, dass dein Dad mit seinen alten Kumpeln bei der Truppe redet?«
»Er will nicht wahrhaben, dass es dort Korruption gibt. Nicht aus Naivität – er vertraut einfach den Leuten, mit denen er zusammengearbeitet hat. Aber diese Leute reden vielleicht wieder mit anderen. Keiner von den korrupten Bullen darf erfahren, dass du dich mit dieser Sache beschäftigst.« Er zögerte kurz. »Und damit sind wir bei dir und der Polizei.«
»Die können von jetzt an mit Nussbaum reden.«
»Ist dir klar, warum sie dir vierundzwanzig Stunden gegeben haben, um auszupacken?«
»Damit sie meine Zelle im Knast gemütlich einrichten können?«
»Sie folgen dem Prinzip von den ersten achtundvierzig Stunden.«
»Aha. Wenn ein Fall nach achtundvierzig Stunden nicht gelöst ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Aufklärung in den Keller.«
»Man merkt, dass du Jura studiert hast.«
»So was lernt man nicht im Studium, sondern vom Fernsehen.«
»Der Haken dabei: Die Polizei steht enorm unter Erfolgs zwang. Glaub mir, die Detectives, die dich vernommen haben, die Uniformierten, der Einsatzleiter bei der Belagerung – die werden allesamt unter Druck gesetzt, um Ergebnisse vorzuweisen.«
»Innerhalb von achtundvierzig Stunden.«
»Das heißt, sie sind stark motiviert, den Zeitrahmen einzuhalten.«
Ihr Magen verkrampfte sich.
»Der Polizeipräsident macht ihnen Dampf. Der Bürgermeister macht dem Präsidenten Dampf. Das County macht dem Bürgermeister Dampf. Fox News und die anderen machen allen Dampf und fragen, warum noch niemand ins Gefängnis geschleift wurde.«
»Sie wollen Blut sehen.«
»Und dreimal darfst du raten, wen sie den Wölfen vorwer fen werden. Morgen früh nehmen sie dich unter einem faden scheinigen Vorwand fest, um zu zeigen, dass sie den Fall ›gelöst‹ haben. Dann führen sie dich vor laufenden Kameras ins Revier.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Damit ruinieren sie deinen Ruf. Aber mit deiner Verhaftung geraten die Ermittlungen nur in eine Warteschleife. Die sind schließlich nicht blöd.«
»Bloß rücksichtslos.«
»Du hast keine Ahnung, wie rücksichtslos. Sobald sie dich haben, können sie zwei Ziele verfolgen.« Er blickte in den Spiegel. »Erstens werden sie
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