Die Zeugin: Thriller (German Edition)
als Seth die Tür öffnete, klingelte drinnen das Telefon. Sie hatten die halbe Strecke bis zum Pick-up zurückgelegt, da rief ihnen Lucky nach und kam heraus.
Sein Ausdruck war beherrscht. »Ich weiß, ihr wollt noch nachdenken, bevor ich mich ans Revier wende, aber die Zeit wird knapp.«
»Wer war das?«
»Ein alter Kollege. Hat so getan, als wollte er bloß ein biss chen plaudern, aber tatsächlich hat er mich gewarnt. Die Detectives, die Rory gestern vernommen haben …«
»Xavier und Zelinski?«, fragte Rory.
»Genau die. Sie wollten, dass er mir auf den Zahn fühlt und in Erfahrung bringt, was du vorhast. Und was zwischen euch beiden läuft. Anscheinend wissen sie, dass du hier bist, Junge.«
»Und was heißt das jetzt?«
»Dass ihr auf der Hut sein müsst.« Lucky blickte sie an. »Sekunde kurz, Rory. Seth ist gleich wieder bei dir.«
Trotz Seths argwöhnischer Miene nickte Rory. »Ich setz mich so lange ins Auto.« Während sie auf den Pick-up zusteuerte, konnte sie die Stimmen der Männer hören.
»Ich weiß, dass du die Wahrheit rausfinden willst«, sagte Lucky. »Und dass ich dich nicht aufhalten kann. Aber pass auf, dass Rory nicht dabei draufgeht.«
»Dad.«
»Hör mir zu, Seth.«
Rory zwang sich dazu, sich nicht umzuschauen.
Lucky senkte die Stimme, trotzdem drangen die Worte klar und deutlich an ihr Ohr. »Sie liebt dich. Und du liebst sie sogar noch mehr. Du könntest nicht mehr leben, wenn du schuld an ihrem Tod wärst.«
Als sich Rory im hellen Licht dem Wagen näherte, kam ihr verzogen und schief ihr Spiegelbild entgegen. Mühelos blickte sie darüber hinaus. Sie erkannte, dass Seth sich durch seine Rückkehr nach Ransom River in Gefahr gebracht hatte. Und sie erkannte, weshalb er dieses Risiko auf sich genommen hatte: für sie. Die Sonnenstrahlen prallten von den Scheiben ab und stachen ihr in die Augen.
32
Sie rollten durch das flache, von Erdbeerreihen durchzogene Farmland. Sprinkleranlagen warfen Regenbögen in die warme Herbstluft. Im Radio hämmerte der Bluesrock der Black Keys. Rory starrte durch die Windschutzscheibe.
Du liebst sie sogar noch mehr.
Sie wollte nicht vor Seth die Beherrschung verlieren, also konzentrierte sie sich auf die Musik.
»Damals in der Nacht«, sagte sie schließlich, »das war Lee.«
»Freddy Krueger.«
»Verdammt … wenn das stimmt …«
Wenn sie ihre hermetisch versiegelten Erinnerungen an ihren Onkel heraufbeschwor, erschien ein Mann, der sich immer freute, sie zu sehen. Der immer einen Moment, ein Lächeln, ein Lachen für sie übrig hatte. Er hätte sie ignorieren und sich nur um ihre Eltern kümmern können, wie es manche Erwachsenen machten, doch er war warmherzig und großzügig. Sie wusste noch gut, wie entzückt sie war, wenn Lee durch die Tür trat. Er war jung und lustig. Er kitzelte sie. Brachte sie zum Lachen.
Vielleicht hatte er bloß nie Arbeit und deshalb viel Zeit. Möglicherweise hatten ihre Eltern zu schwer an ihrer Verant wortung zu tragen, um unbekümmert mit ihr herumzualbern. Nein, das stimmte nicht. Auch sie waren von Rory bezaubert. Auf eine ruhigere, solidere Art, die ihr immer Halt bot.
Doch selbst wenn ihr Onkel an dem Raubüberfall auf den Geldtransporter beteiligt gewesen war, was konnte das mit einem Entführungsversuch zwanzig Jahre später zu tun haben?
»Warum wollen sie ausgerechnet mich schnappen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts über die Beute aus dem Raub.«
Seth wandte den Blick nicht von der Straße. »Du bist ein Faustpfand für Verhandlungen.«
»Und wer soll diese Verhandlungen führen? Lee sicher nicht. Falls er tatsächlich der vierte Mann bei dem Raub war, dann ist er mit dem Geld geflüchtet.«
»Genau das ist der Knackpunkt. Wenn er es mit der Beute über die Grenze geschafft hat, dann ist er der große Gewinner.«
»Und die überlebenden Mitglieder der Bande, die bald aus dem Gefängnis kommen, wollen ihren Anteil. Also benutzen sie mich. Trotzdem verstehe ich nicht …« Sie verstummte und öffnete den Mund.
»Was ist?«
»O mein Gott. Jetzt wird mir alles klar. Was die Bewaffneten im Gerichtssaal geflüstert haben.« Sie wandte sich halb zu ihm. »Sie haben von ›Bezahlung‹ und ›Konsequenzen‹ geredet. Und davon, dass sie jemanden ›rauslocken‹ müssen.«
Seth warf ihr einen forschenden Blick zu. »Und du dachtest, es geht um einen Zeugen, der den Mord an Obrad Mirkovic beobachtet hat.«
»Klar.« Nervös rieb sie sich über die Stirn. »Das ging alles
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