Die Zeugin: Thriller (German Edition)
»Boone.«
Im Wohnzimmer fing ein Kind zu weinen an. Im Gangspiegel bemerkte Rory zwei Knirpse, die um einen Stoffbären rangen. Addie schaute ihnen kurz zu, dann stand sie wacklig auf und tapste mit ihrer Lerntasse in der Hand hinüber, um dem Mädchen die Wange zu tätscheln. Eine zufällige und unglaublich rührende Geste.
Boone starrte auf Rorys Füße, als wollte er sie in Brand stecken.
»Anscheinend passt es gerade nicht so gut.« Rory wurde es allmählich mulmig. »Ich schau vielleicht später noch mal vorbei.«
»Ach?«, antwortete Boone. »Ich finde, es passt hervorragend.«
Im selben Moment öffnete sich bebend das Fliegengitter, und ein Hauch von Parfüm drang herein.
Rory erstarrte. Hey, Seth, wo war deine Warnnachricht? Er hätte doch wenigstens hupen können. Oder am besten gleich ans Küchenfenster klopfen und schreien: Komm bloß raus da – gleich wird’s brenzlig! Sie drehte sich um.
Mit geneigtem Kopf stand Riss in der Haustür. »Hipp, hipp, hurra.«
Das Gewimmer der Kinder im Wohnzimmer wurde lauter. »Meins, meins. «
Riss lehnte sich an den Rahmen und blockierte die Haustür. »Aurora spaziert herein, und alle Kinder flennen? Das ist ja wie in einem Exorzismusfilm.«
»Wollte gerade gehen.«
»Was machst du hier?« Riss’ Blick streifte Boone und Amber. »Was ist los?«
Amber hob die Hand. »Nichts.«
»Sie schaut zum ersten Mal seit Menschengedenken vorbei – einfach so, ohne Grund?«
»Lass es, Riss«, antwortete Amber.
Boone hatte seinen Apfel aufgegessen und warf den Rest in die Spüle. »Schon merkwürdig, irgendwie.«
»Das waren überhaupt zwei merkwürdige Tage«, sagte Rory.
Er wischte sich die Hände ab. »Und was haben wir damit zu tun, Prinzessin?«
O Mann. Rorys Finger kribbelten.
»Im Ernst«, fuhr er fort. »Du warst seit zehn Jahren nicht mehr in diesem Haus. Warum kreuzt du ausgerechnet heute auf?«
Rory sackte das Herz in die Hose. Boone war keine vierzehn mehr. Er war einunddreißig, eins fünfundachtzig groß, mit knotigen Muskeln an den tätowierten Armen. Und was hier in der Luft lag, waren nicht nur Sticheleien und Groll. Boone wirkte angespannt. Riss strahlte etwas Lauerndes aus. Rory hatte das Gefühl, von Raubtieren umschlichen zu werden.
So benahmen sie sich, wenn sie Grund zur Angst hatten. Wenn sie etwas angestellt hatten und Gefahr liefen aufzufliegen.
Amber hatte sich still in eine Ecke zurückgezogen. Das blitzende Sonnenlicht in ihrer Brille verstärkte noch den Eindruck von Bestürzung in ihrem Gesicht. »Boone, du musst nicht so reden.«
Er öffnete sein Bier und trank aus der Flasche.
Riss zog die Fliegentür zu. »So reden?« Sie äffte Ambers Stimme nach. »Wieso, das ist doch eine berechtigte Frage, auf die ich auch gern eine Antwort hätte.«
Im Wohnzimmer eskalierte der Kampf der Knirpse. Ein Mädchen brach in lautes Schluchzen aus. Rory sah zwei Kinder auf dem Boden, die an dem Stoffbär zerrten. Der Junge strampelte kreischend mit den Füßen. Addie steckte den Daumen in den Mund und lief in eine Ecke.
»Lass los «, wimmerte der Kleine.
Amber seufzte, dann machte sie sich mit hängenden Schultern auf den Weg zu ihren Schützlingen. »Hey, hey.« Sie trennte die beiden. Das Weinen ging weiter. Schließlich fasste sie die Streithähne an der Hand.
»Mittagsschläfchen.« Mit erschöpftem Gesicht führte sie sie in ein Schlafzimmer. Das Weinen drang nur noch gedämpft herüber.
Rory spürte die Blicke ihrer Cousins wie ein schweres Gewicht. Zeit zu verschwinden.
Doch Riss blockierte immer noch die Tür. »Mit Amber kann man momentan nicht reden.«
Rorys Augenbrauen wanderten nach oben. Seit wann sagte Riss nicht mehr Mom, sondern Amber, wenn sie über ihre Stiefmutter sprach?
»Steckt bis zum Hals in Windeln und Rotz. Du kannst vielleicht in der Welt rumgondeln und Champagner schlürfen, im Gegensatz zu anderen Leuten, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.«
»Deine Mom liegt mir seit gestern in den Ohren, dass ich mit ihr sprechen soll. Aber jetzt ist sie anscheinend beschäftigt. Okay, dann komm ich eben später wieder.« Rory machte einen Schritt in Richtung Haustür.
Riss lehnte sich an den Rahmen und stemmte beiläufig einen Fuß gegen die andere Seite.
Jetzt glitt auch Boone aus der Küche in den Flur und baute sich vor ihr auf. »Bist du hergekommen, um zu prahlen?«
»Was?«
»Hat dich die aufgeblasene Samantha hergeschickt, um Amber zu schikanieren?« Mit dem Finger schnippte er den Kragen
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