Die Zeugin
erklärte Gibb.
»Ach, das ist aber nett!« rief Kendall aus. Roscoe war der Hausmeister im Gerichtsgebäude, dreiÃig Jahre lang eine feste Institution. Seit sie dort als Pflichtverteidigerin arbeitete, hatten Kendall und er Freundschaft geschlossen. Sie wickelte das Geschenk aus, und es erschien ein Bilderrahmen. »Alles Gute«, las sie die beiliegende Karte vor. »Roscoe und Henrietta Calloway.« Ihr Lächeln wich einem nachdenklichen Stirnrunzeln. »Ich kann mich gar nicht entsinnen, sie auf der Hochzeit gesehen zu haben. Warum sind sie wohl nicht gekommen?«
»Ich habe dir davon abgeraten, sie einzuladen«, rief Matt ihr leise ins Gedächtnis.
»Aber ich habe es trotzdem getan«, widersprach sie. »Roscoe ist immer so nett zu mir, stellt mir oft eine frische Rose auf den Schreibtisch oder erweist mir andere kleine Aufmerksamkeiten. Er hat sich so gefreut, als wir uns verlobten. WeiÃt du, daà er sehr viel von dir hält, Matt? Von dir auch, Gibb!«
»Roscoe ist ein ganz Braver.«
Gibb wandte sich vom Herd ab, um ihr einen Teller zu bringen. Die Waffel war perfekt â dick und goldbraun und mit einem schmelzenden Butterstück in der Mitte versehen.
Aber Gibbs Kommentar hatte ihr den Appetit verdorben.
»âºEin ganz Braverâ¹?« wiederholte sie. Sie hoffte, daà Gibb das nicht so meinte, wie sie befürchtete.
»Roscoe wuÃte, daà er und seine Frau bei eurer Hochzeit ... einfach fehl am Platze gewesen wären«, erläuterte ihr Schwiegervater.
Sie sah ihren Mann an, der zustimmend nickte. »Sie wären die einzigen Farbigen gewesen, Kendall.«
»Bestimmt hat sich Roscoe über deine Einladung gefreut, auch wenn er sie nicht annehmen konnte. Er weiÃ, wo er hingehört, auch wenn du das noch nicht überblickst.« Gibb drückte ihr aufmunternd die Schulter. »Aber das wirst du schon noch lernen.«
8. Kapitel
Nach der stundenlangen Fahrt war Kendall wie tot. Aber bevor sie an Schlaf denken durfte, muÃte sie noch ein paar Dinge erledigen. Als erstes brauchte Kevin ein Bettchen für die Nacht.
In einer Rumpelkammer entdeckte sie ein altes Laufställchen, das einst einer Labradorhündin als KreiÃsaal gedient hatte. Reinigungsmittel waren in dem Schrank, in dem GroÃmutter sie seit jeher aufbewahrt hatte. Kendall schrubbte den Laufstall, bis er sauber genug glänzte, um Kevin als Bett zu dienen.
»Gibt es irgendwo was zu essen?«
Er lehnte schwer auf seinen Krücken und sah eingefallen aus vor Erschöpfung. Sie hatte ihm gleich nach ihrer Ankunft vorgeschlagen, sich ins Bett zu legen, aber er hatte ihren Rat verschmäht. Statt dessen war er ihr wie ein Bluthund durchs Haus gefolgt.
»Du machst mich ganz verrückt«, hatte sie ihn angekeift und war herumgefahren. Er hatte so dicht hinter ihr gestanden, daà sie fast mit ihm zusammengeprallt wäre. »Wenn du dich schon nicht hinlegen willst, dann setz dich wenigstens irgendwo, und lauf mir nicht ständig nach.«
»Damit du durch die Hintertür abhauen kannst?«
Sie hatte resigniert geseufzt. »Selbst wenn ich das vorhätte â was nicht der Fall ist â, dann wäre ich zu müde, um nur noch eine Meile weiter zu fahren. Also entspann dich, okay?«
Er hatte sich nicht wirklich entspannt, aber sich auch nicht mehr ganz so hartnäckig an ihre Fersen geheftet. Jetzt erst beantwortete sie seine Frage: »Ich sehâ mal nach, ob ich was EÃbares finde.«
In der Vorratskammer fand sie kaum etwas â eine Dose Gartenbohnen und ein Glas Pfirsiche. »Nicht gerade Haute Cuisine«, kommentierte sie die Auswahl.
»Schon recht«, sagte er. »Im Moment ist alles besser als nichts.«
»Morgen kaufe ich Lebensmittel. Bis dahin funktioniert dann der Kühlschrank.«
Sie teilten sich das Essen und die Crackers, die sie aus dem Automaten gezogen hatte, bevor die jungen Helden ihr auf den Leib gerückt waren. Weil er eingegriffen hatte, würde man sich an den Vorfall erinnern â besonders der Junge, der morgen mit blau angelaufenen Schienbeinen aufwachte. Das stimmte sie miÃlaunig.
Andererseits hatte sein beherzter Auftritt sie überrascht und ihr gefallen. Offenbar war sein Beschützerinstinkt recht ausgeprägt und durch den Gedächtnisverlust nicht beeinträchtigt worden. Sie hatte seine Hilfe nicht herbeigewünscht, aber insgeheim
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