Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
Vom Netzwerk:
Mutter ist schon lange tot.«
    Er ließ sich das durch den Kopf gehen; dann sagte er: »Wahrscheinlich kann ich schlecht um jemanden trauern, an den ich mich nicht mal erinnere. Habe ich Geschwister?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Â»Was ist mit meinem Vater? Auch tot?«
    Â»Nein. Aber ihr beide habt euch gezankt.«
    Â»Weswegen?«
    Â»Schon vor dem Unfall hast du dich jedesmal aufgeregt, wenn das Gespräch auf diese Geschichte kam. Ich halte es für besser, die Sache einstweilen auf sich beruhen zu lassen.«
    Â»Weiß er überhaupt von dem Unfall?«
    Â»Ich dachte, du hättest wahrscheinlich nicht gewollt, daß ich es ihm sage, deshalb habe ich ihn nicht angerufen.«
    Â»Wir haben uns so zerstritten, daß es meinem Vater gleichgültig ist, ob ich tot oder lebendig bin?«
    Â»Natürlich wäre es ihm nicht gleichgültig, ob du tot oder lebendig bist, aber du würdest nicht wollen, daß er von dem Unfall erfährt. Entschuldige. Ich muß Kevin hinlegen.« Sie bemühte sich, es nicht wie eine Flucht wirken zu lassen.
    Den Laufstall hatte sie im kleineren Zimmer aufgestellt. Behutsam legte sie das Baby hinein. Augenblicklich zog Kevin die Knie unter die Brust und reckte den Popo in die Luft.
    Â»Wie kann er so bloß schlafen?«
    Erst als sie seine Stimme direkt hinter sich vernahm, begriff sie, daß er ihr gefolgt war. »Viele Babys schlafen so.«
    Â»Sieht nicht besonders bequem aus.«
    Â»Wahrscheinlich muß man drei Monate alt sein, um es bequem zu finden.«

    Â»War die Schwangerschaft schwierig?«
    Â»In den ersten Monaten hatte ich Probleme. Danach ging es leichter.«
    Â»Was für Probleme?«
    Â»Die üblichen. Morgendliche Übelkeit. Müdigkeit. Depressionen.«
    Â»Wieso hattest du Depressionen?«
    Â»Ich hatte nicht wirklich Depressionen. Ich mußte einfach ab und zu weinen.«
    Â»Weswegen mußtest du weinen?«
    Â»Bitte. Ich bin am Ende. Kann diese Inquisition nicht warten?« Sie wollte sich an ihm vorbeischlängeln, doch er versperrte ihr mit seiner Krücke den Weg.
    Â»Ich habe es allmählich satt, daß du ständig mit dieser verdammten Krücke rumfuchtelst, als wäre sie ein Schlagbaum«, fauchte sie ihn an.
    Â»Und ich habe deine ewigen Ausflüchte satt. Ich will eine Antwort: Wieso hattest du während der Schwangerschaft Depressionen? Wolltest du kein Kind?«
    Sie hatte nicht mehr die Kraft, ihren Zorn aufrechtzuerhalten, und sagte resigniert: »Die hormonellen Veränderungen im ersten Drittel der Schwangerschaft verursachen manchmal Pessimismus. Und doch war Kevin ein Wunschkind.«
    Â»Für mich auch?«
    Sie sahen sich an, bis sie nach ein paar Sekunden ruhig die Krücke beiseite schob. »Ich nehme jetzt ein Bad.«
    Sie schaltete das Licht aus. Aber kaum war es erloschen, strichen zwei Scheinwerfer über die Hausfront und strahlten direkt ins Zimmer.
    Â»O Gott!« Kendall fuhr herum, stolperte zum Fenster, preßte sich an die Wand. Ihr Herz raste. In panischer Angst beobachtete sie, wie der Wagen langsam ausrollte.

    Das Auto blieb ruhig am Ende der Auffahrt stehen, die Lichtkegel wie Suchscheinwerfer auf das Haus gerichtet. In der diesigen, verregneten Luft sah es wie ein Ungeheuer aus, groß und gefährlich, und das Brummen des Motors ähnelte einem drohenden Knurren.
    Er kam humpelnd und knarzend näher, so daß sie zischte: »Sie dürfen dich nicht sehen! Weg vom Fenster.«
    Er erstarrte. Keiner von beiden bewegte sich. Kendall wagte nicht mal zu atmen, bis das Auto rückwärts aus der Ausfahrt fuhr und verschwand. Vor Erleichterung wäre sie fast zusammengesunken. Als sie die Sprache wiedergefunden hatte, verlieh sie ihrer Stimme möglichste Ungezwungenheit: »Da ist wohl jemand falsch abgebogen.«
    Sie drehte sich um und sah ihn in der offenen Tür stehen, eine Silhouette vor dem Licht aus dem Gang. Er wirkte groß und besorgniserregend. Als sie an ihm vorbei wollte, schaltete er mit einer schnellen Bewegung das Deckenlicht ein, drehte ihr Gesicht nach oben und sah sie scharf an.
    Â»Was bedeutet dieser ganze Mist?«
    Â»Nichts.«
    Â»Nichts? Du bist leichenblaß und fast in Ohnmacht gefallen, als du das Auto entdecktest. Wieso? Wer ist hinter uns her? Wer ist hinter dir her?«
    Den Blick gesenkt, antwortete sie: »Ich habe einfach keinen Besuch erwartet, sonst nichts.«
    Â»Na klar.

Weitere Kostenlose Bücher