Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
Vom Netzwerk:
die Stöckelschuhe, die sie am Morgen zur Arbeit angezogen hatte, und war somit kaum für eine Waldwanderung ausgerüstet. Ihre Strumpfhose konnte sie jedenfalls abschreiben. Zweige und Dornen, die nach dem monatelangen Winterschlaf austrieben, rissen ihr an Haaren und Kleidern, zerkratzten ihre Arme und Beine. Etwas raschelte nur ein paar Schritte von ihr entfernt im Unterholz, aber sie eilte weiter, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.
    Ein Schrei zerriß die Luft.
    Kendall erstarrte. Ihr Herz setzte aus. Was in Himmels Namen war das? Ein Tier? Eine Art Wildkatze? Klangen Panther nicht so ähnlich?
    Nein, es hatte menschlich geklungen – grauenvoll, entsetzlich menschlich. Was, in aller Welt, spielte sich hier ab?
    Dem ersten, gellenden Schrei folgte ein abgehacktes Schmerzgebrüll von Todesqual.
    Aufgepeitscht durch den Gedanken, daß jemand ihre Hilfe brauchte, und ungeachtet ihrer Angst, stürzte sie sich abseits des Trampelpfades in die Dunkelheit, um keine Sekunde zu verlieren. Sie kämpfte sich durch dichtes Gehölz, ohne sich darum zu kümmern, daß Zweige ihr die Haut aufrissen und Nesseln und Dornen sie zerstachen.
    Dann sah sie vor sich die vertraute Lichtung. Zwischen den Bäumen erkannte sie ein flackerndes Lagerfeuer und menschliche Silhouetten davor.
    Es waren weit über zwanzig Menschen. Sie redeten laut durcheinander, wirkten aber weder aufgeregt noch verstört.
    Erleichtert blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen; sie fürchtete, der panische Marsch durch den Wald könnte ihrer frühen
Schwangerschaft geschadet haben. Sie lehnte den Kopf gegen einen Baum, sank in die Knie und atmete tief durch.
    Als sie lautes Lachen hörte, sah sie wieder auf. Sie hätte gern gewußt, was es mit dieser seltsamen Versammlung auf sich hatte. Zugleich beschlich sie jedoch das dumpfe Gefühl, daß es besser war, unerkannt zu bleiben. Bis sie herausgefunden hatte, wer da geschrien hatte und warum, war Vorsicht geboten.
    Bald erkannte sie, daß die Gruppe ausschließlich aus Männern bestand. Wurde sie Zeugin einer Initiation in eine geheime Bruderschaft? Sie war beinahe zu dem Schluß gekommen, daß es nichts anderes sein konnte, als sie ein Gesicht erspähte, das sie erschreckt Luft holen ließ.
    Dabney Gorn. Was hatte der Ankläger hier draußen zu suchen? Und dort war auch Richter Fargo. War das hier eine Art Vereinsversammlung?
    Sie entdeckte auch den Vorsitzenden der Schulbehörde, den Postbeamten, Herman Johnson und Bob Whitaker, den Prediger.
    Die Männer starrten wie gebannt auf etwas am Boden Liegendes. Sie standen in einem engen Kreis, so daß Kendall nicht erkennen konnte, worum es sich handelte.
    Ihr blieb fast das Herz stehen, als wieder ein Schrei gellte. Herman Johnson warf den Kopf in den Nacken und stieß ein schauriges Heulen aus, das Kendall das Blut in den Adern gefrieren ließ, während ein paar seiner Genossen das Objekt aufrichteten, das zuvor am Boden gelegen hatte.
    Es war ein Kreuz.
    Auf das man Michael Li genagelt hatte.

23. Kapitel
    Der junge Mann war nackt.
    Wo eigentlich seine Genitalien sein sollten, sprudelte dunkles, rotes Blut. Sein Kopf baumelte leblos auf der schmalen Brust. Er war entweder tot oder bewußtlos.
    Kendall war zu entsetzt, um zu schreien. In stummem Grauen beobachtete sie, wie einer der Männer eine Räuberleiter für Mr. Johnsons Fuß formte und ihn hochhob. Sobald Mr. Johnson auf Augenhöhe mit Michael Li war, packte er den Jungen am Schopf, zog den Kopf zurück, zwang seinen Mund auf und stopfte etwas hinein. Kendall konnte sich nur zu gut vorstellen, was.
    Als Johnson wieder auf dem Boden stand, begannen die anderen zu johlen. Dann erstarb der Jubel wieder, und die ganze Gruppe verstummte. Sekunden später stimmten die Männer ein Kirchenlied an.
    Kendall wurde schlecht. Sie schluckte die ätzenden Magensäfte hinunter, weil sie jedes Geräusch vermeiden wollte, und schlich sich so leise wie möglich rückwärts davon, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Sie hatte mitangesehen, wie eine Art Bürgerwehr, eine Lynchjustizgruppe, einen unschuldigen Jungen hingerichtet hatte. Wenn die Männer merkten, daß sie beobachtet worden waren, hätten sie mit ihr nicht mehr Gnade als mit Michael Li.
    Sobald sie sicher war, außer Sichtweite zu sein, drehte sie sich um und floh blindlings durch den Wald. Es war ihr egal, wieviel Lärm sie dabei

Weitere Kostenlose Bücher