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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Meile, die mich von Dorcas trennte, schmerzte, war ich unbeschreiblich froh, wieder auf der Samru zu sein, nachdem ich den stillen, leeren Süden gesehen hatte.
    Ihre Decks waren aus gemischten, aber herrlich hellen und neuen Hölzern und wurden täglich mit dem Bären geschrubbt – einem übergroßen Scheuerlappen aus altem Tauwerk, der mit den gewichtigen Leibern unsrer beiden Köche beschwert und so vor dem Frühstück von der Mannschaft bis über die allerletzte Planke gezogen wurde. Die Ritzen zwischen den Planken waren mit Teer ausgefugt, so daß die Decks wie Terrassen mit phantasievollem, kühn gemustertem Pflaster wirkten.
    Sie hatte einen hohen Bug mit einem einwärts geschwungenen Vordersteven. Augen, ein jedes mit einer tellergroßen Pupille und einer himmelsblauen Iris in der leuchtendsten erhältlichen Farbe, schauten über die grünen Wasser aus, um den rechten Kurs zu finden; ihr linkes Auge weinte den Anker.
    Vor dem Vordersteven prunkte, getragen von einer dreikantigen Holzstrebe, die ebenfalls kunstvoll beschnitzt, vergoldet und bemalt war, als Galionsfigur der Vogel der Unsterblichkeit. Sein Kopf war ein Frauenhaupt mit langem, aristokratischem Gesicht, kleinen schwarzen Augen und einer ausdrucksleeren Miene – Huldigung auf die melancholische Ruhe jener, die den Tod nicht kennen. Buntbemaltes, aus Holz geschnitztes Gefieder entwuchs seinem Schädel und schmiegte sich um die Schultern und wölbte sich über die halbkugligen Brüste; anstelle von Armen hatte er Flügel, die er nach oben und hinten spreizte, so daß die Flügelspitzen den Steven überragten und die rotgoldenen Schwungfedern die dreikantige Strebe fast verdeckten. Ich hätte ihn für eine bloße Sagengestalt gehalten – als was ihn gewiß die Matrosen sahen –, hätte ich nicht mit den Engeln des Autarchen Bekanntschaft gemacht.
    Ein niedriger Bugspriet hing über dem Steven nach Steuerbord. Der Fockmast, kaum höher als dieses Spriet, fußte im Vorderkastell. Er fiel nach vorne, um für das Focksegel Platz zu machen, als hätten ihn das Fockstag und der gespannte Klüver aus der Senkrechten gezogen. Der Großmast stand so kerzengerade wie die Kiefer, die er einst gewesen war, aber der Besanmast hatte Fall nach hinten, so daß die Spitzen der drei Masten viel weiter auseinanderlagen als die Mastfüße. Jeder Mast war mit einer schrägen Rah versehen, die aus zwei verzurrten konischen Rundhölzern, einst stattlichen Schößlingen, bestand und jeweils ein dreieckiges rostbraunes Segel trug.
    Der Rumpf selbst war unter der Wasserlinie weiß gestrichen und darüber schwarz bis auf die Galionsfigur und Augen, von denen die Rede war, und Achterdeckreling, welche einen scharlachroten Anstrich hatte zum Zeichen für den hohen Stand des Kapitäns und seine blutige Vergangenheit. Dieses Achterdeck machte nicht einmal ein Sechstel der Gesamtlänge der Samru aus, aber hier befanden sich das Steuerrad und Kompaßhaus, und von hier hatte man bis auf die Takelage beste Sicht. Dort stand auch das einzige Geschütz des Schiffes, eine Drehbasse ähnlich derjenigen von Mamillian, die gegen Piraterie und Meuterei feite. Hinter der Heckreling schaukelten an Eisenstangen, die so kühn geschwungen waren wie die Fühler einer Grille, zwei facettierte Laternen, wovon die eine hellrot, die andre grün wie Mondschein war.
    Bei diesen Laternen stand ich am nächsten Abend und lauschte dem Pochen der Trommel, dem Plätschern der Riemenblätter und dem Lied der Ruderer, als ich die ersten Lichter entlang des Ufers ausmachte. Wir waren am Stadtrand, dem sterbenden, Heim der allerärmsten der ärmsten der Armen – was heißen soll, daß hier die Grenze des Lebens an das Reich des Todes stieß. Dort bereiten sich die Menschen aufs Schlafen vor, saßen vielleicht noch über dem Mahl, das den Tag beschloß. Ich sah tausend Wohltaten in jedem dieser Lichter und hörte tausend Nachtgeschichten im Feuerschein. Ich war gewissermaßen wieder daheim; und das gleiche Lied, das mich im Frühjahr hinausgeführt hatte in die Welt, geleitete mich nun wieder nach Hause:
     
    Rudert, Brüder, rudert!
    Der Strom ist gegen uns.
    Rudert, Brüder, rudert!
    Doch Gott ist mit uns.
    Rudert, Brüder, rudert!
    Der Wind steht gegen uns.
    Rudert, Brüder, rudert!
    Doch Gott ist mit uns.
     
    Zwangsläufig fragte ich mich, wer sich in dieser Nacht aufmache.
    Jede längere Geschichte, die wahrheitsgemäß erzählt sein will, wird alle Elemente in sich enthalten müssen, die zum

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