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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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erzählt habe. Ich wünschte, wir könnten irgendwo ungestört sprechen. Mir kam vor einiger Zeit ein Talisman in die Hand – ganz unbeabsichtigt. Er gehört mir nicht und ist sehr wertvoll. Manchmal – nicht immer, aber manchmal – hat er die Macht, Kranke zu heilen und sogar Tote wiederzuerwecken. Als ich vor zwei Tagen nordwärts zog, stieß ich auf einen toten Soldaten. Der Leichnam lag in einem Wald, abseits von der Straße. Er war erst vor kurzem verstorben; ich würde sagen, in der Nacht zuvor. Damals war ich sehr hungrig, also durchschnitt ich die Riemen seines Ranzens und aß fast alles, was er an Vorräten bei sich trug. Bald bekam ich deswegen ein schlechtes Gewissen, nahm den Talisman heraus und versuchte ihn wieder zum Leben zu erwecken. Der Talisman hatte in der Vergangenheit nicht immer geholfen, und schon befürchtete ich, er hätte auch nun keine Wirkung. Er half – allerdings erwachte der Soldat sehr langsam zum Leben und wußte eine Zeitlang nicht, wo er war und was ihm geschah.«
    »Und dieser Soldat bin ich?«
    Ich nickte, in seine ehrlichen blauen Augen blickend.
    »Darf ich den Talisman sehn?«
    Ich zog ihn hervor und legte ihn in meine flache Hand. Er nahm ihn, betrachtete ihn sorgsam von allen Seiten und prüfte die Spitze mit seiner Fingerkuppe. »Es ist nichts Magisches daran zu erkennen«, meinte er.
    »Ich glaube, magisch wäre nicht das richtige Wort. Ich bin Magiern begegnet, aber nichts an ihnen hat mich an das hier und seine Wirkungsweise erinnert. Manchmal leuchtet es hell – der Schein ist nun sehr schwach, wirst ihn gar nicht sehn können.«
    »Seh’ nichts. Scheint keine Inschrift zu haben.«
    »Du meinst Zaubersprüche oder Gebete. Nein, ist mir nie aufgefallen, und ich trag’s schon lange bei mir. Ich weiß wirklich nichts darüber, außer daß es manchmal Wunder wirkt; aber ich denke, es ist wohl das, woraus Zaubersprüche und Gebete gemacht sind, und nicht das, was damit gemacht wird.«
    »Du sagst, es gehöre dir nicht.«
    Ich nickte wiederum. »Es gehört den Priesterinnen hier, den Pelerinen.«
    »Du bist gerade erst angekommen. Vor zwei Nächten zusammen mit mir.«
    »Ich war auf der Suche nach ihnen, um es zurückzugeben. Es wurde ihnen – nicht von mir – vor einiger Zeit in Nessus genommen.«
    »Und du gibst’s zurück?« Er sah mich an, als hegte er gewisse Zweifel daran.
    »Ja, ich geb’s irgendwann zurück.«
    Er stand auf und glättete sich das lange Hemd mit den Händen.
    Ich sagte: »Du glaubst mir nicht, was? Kein Wort glaubst du mir.«
    »Als ich zu dir kam, stelltest du mich deinen Bettnachbarn vor.« Er sprach langsam, schien jedes Wort abzuwägen. »Natürlich lernte auch ich ein paar Leute kennen, wo ich liege. Da gibt’s einen, der eigentlich nicht schlimm verwundet ist. Er ist fast noch ein Knabe, ein Jüngling von einem kleinen Pachtgut weit entfernt von hier, und sitzt den ganzen Tag auf seiner Pritsche und starrt auf den Boden.«
    »Heimweh?« fragte ich.
    Der Soldat schüttelte den Kopf. »Er besaß eine Energiewaffe. Eine Korseke, wie ich hörte. Kennst du dich damit aus?«
    »Nicht besonders.«
    »Sie sendet einen Strahl geradeaus und zwei weitere rechtwinklig dazu, links und rechts. Die Reichweite ist recht gering, aber sie eignet sich, wie man sagt, gut zur Abwehr von Massenangriffen, was einleuchtet.«
    Er blickte sich flüchtig um, ob man uns belausche, aber es ist im Lazarett eine Ehrensache, daß man Gespräche, die nicht für einen gedacht sind, überhört. Wäre dem nicht so, lägen sich die Patienten bald in den Haaren.
    »Seine Hundertschaft war einem solchen Angriff ausgesetzt. Die meisten brachen aus den Reihen und rannten davon. Er floh nicht und kam durch. Wie ein anderer erzählte, ragten drei Mauern aus Leichen – Ascier, die er niedergemäht hatte – vor ihm auf, welche die Ascier alsbald erklommen, um sich auf ihn zu stürzen. Also mußte er sich zurückziehen, woraufhin er sie wieder haufenweise in den Tod schickte.«
    Ich sagte: »Das brachte ihm bestimmt eine Medaille und eine Beförderung.« Ich war mir nicht sicher, ob es am wieder aufflammenden Fieber oder bloß an der Hitze des Tages lag, aber ich schwitzte und hechelte vor Wärme.
    »Nein, er wurde hierher geschickt. Ich sagte bereits, er sei nur ein Knabe vom Land. Er hatte an diesem Tag mehr Leute getötet, als er bis vor ein paar Monaten, als er zum Heer kam, insgesamt gesehen hatte. Er ist noch nicht darüber hinweggekommen – wird’s vielleicht

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