Die Zitadelle des Autarchen
aus ich (wie mir schien) das Haus des Anachoreten auf dem Kliff gesehen hatte. Selbstverständlich war es nicht mehr da; obendrein war das Kliff weder so hoch noch so steil, wie ich es in Erinnerung hatte.
Erst jetzt bemerkte ich, als ich wieder die Karte hervorholte und eingehend studierte, daß Mannea – in so feiner Handschrift, daß ich’s kaum für möglich hielt, sie stamme von derselben Feder, die sie vor meinen Augen verwendet hatte – den Vermerk DAS LETZTE HAUS unter die Zeichnung der Einsiedelei gesetzt hatte. Aus irgendeinem Grund erinnerten mich dieser Wortlaut und das Bild dieses Hauses über dem Kliff an jene Hütte, die Agia und ich im Dschungelgarten betreten hatten, worin Mann und Frau bei einem Nackten namens Isangoma saßen und seiner Rede lauschten. Agia, die sich im Botanischen Garten gut ausgekannt hatte, hatte mir dort gesagt, wenn ich nun umkehren und wieder zu dieser Hütte gehen wollte, fände ich sie nicht mehr. Während ich mir Gedanken zu diesem Erlebnis machte, wurde mir klar, daß ich ihr nun nicht mehr glaubte, obzwar ich ihr damals Glauben geschenkt hatte. Natürlich konnte mein plötzlicher Zweifel bloß eine Reaktion auf ihre Arglist sein, die ich inzwischen zur Genüge kennengelernt hatte. Oder aber ich war einfach nur viel gutgläubiger damals, als ich der Zitadelle und Obhut der Folterer noch keinen Tag entronnen war. Aber es wäre auch möglich – so überlegte ich nun –, daß ich damals geglaubt hatte, weil ich’s gerade selber gesehen hatte und mich durch diesen Anblick und jene Leute gern hatte überzeugen lassen.
Vater Inire hat angeblich den Botanischen Garten erbaut. Könnt’ es nicht sein, daß dieses sein Wissen zum Teil auch dem Anachoreten bekannt wäre? Vater Inire hat auch das Geheimgelaß im Haus Absolut erbaut, das den Eindruck eines Gemäldes erweckt. Ich hatte es zufällig entdeckt, aber nur, weil ich die Weisungen des alten Bilderreinigers genau befolgte – wozu sie auch gedacht waren. Nicht befolgt hatte ich allerdings die Weisungen Manneas.
Ich kehrte an der Bergschulter zurück und bestieg den einfachen Hang. Das steile Kliff aus meiner Erinnerung fiel jäh vor mir ab, und an seinem Fuße rauschte ein schmaler Wasserlauf, dessen Gemurmel das enge Tal erfüllte. Anhand des Sonnenstandes schätzte ich, daß mir noch höchstens zwei Wachen bis zur Dämmerung blieben; allerdings fiel mir der Abstieg bei Tageslicht viel leichter als der Aufstieg in der Nacht davor. In weniger als einer Wache war ich unten und stand im engen Tal, das ich am Vorabend verlassen hatte. Ich entdeckte kein Licht in einem der Fenster, aber das Letzte Haus stand, auf dem Kliff erbaut, worauf ich an diesem Tag meinen Fuß gesetzt hatte. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und nutzte das letzte Tageslicht, um die Karte zu studieren, die Mannea mir aufgezeichnet hatte.
Ehe ich fortfahre, möchte ich klarstellen, daß ich mir keineswegs sicher bin, ob bei all dem irgend etwas Übernatürliches im Spiel gewesen sei. Ich sah das Letzte Haus also zweimal, allerdings jeweils unter anderen Lichtverhältnissen, nämlich einmal bei beginnender Dämmerung und das andre Mal bei fortgeschrittener Dämmerung. Es wäre durchaus möglich, daß es sich lediglich um ein düsteres Felsgebilde handelte, was ich als Haus zu sehen glaubte, und das beleuchtete Fenster ein Stern gewesen wäre.
Hinsichtlich des engen Tals, das verschwand, als ich es von der anderen Seite angehen wollte, ließe sich feststellen, daß keine geographische Formation leichter aus dem Blickfeld verschwindet als eine solche jähe Schlucht. Schon die kleinste Bodenerhebung verdeckt sie. Um sich vor Plünderern zu schützen, scheuen einige Autochthonenstämme der Pampas nicht davor zurück, ihre Dörfer in dieser Form zu gestalten, indem sie zuerst eine Grube ausheben, zu deren Boden man über eine Rampe gelangt, und dann Ställe und Wohnungen in die Seitenwände graben. Sobald das aufgeworfene Erdreich mit Gras überzogen ist, das nach dem Winterregen rasch emporschießt, kann man bis auf eine halbe Kette an einen solchen Ort heranreiten, ohne ihn zu bemerken.
Ich hätte zwar so töricht sein können, aber glaube nicht, daß ich’s gewesen bin. Meister Palaemon hat immer gesagt, das Übernatürliche gibt es nur, damit man sich nicht schämen braucht, wenn man sich vor dem Nachtwind fürchtet; ich allerdings bin – nun mehr denn je – überzeugt, daß in diesem Haus wirklich unheimliche Kräfte gewirkt haben.
Doch
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