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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Einsiedelei war mir beschrieben und die Beschreibung anhand einer Skizze auf der Karte, die ich mitführte, verdeutlicht worden; darüber hinaus wurde mir erklärt, ich brauchte zwei Tage, um ans Ziel zu gelangen. Also war ich einigermaßen verblüfft, als ich bei Sonnenuntergang den Blick nach oben kehrte und das Haus sah, das über mir vom Felskliff aufragte.
    Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Mannea hatte mit ihrer Zeichnung den hohen, spitzen Giebel, der so luftig und stark zugleich wirkte, treffend wiedergegeben. Es brannte schon ein Lämpchen in einem der kleinen Fenster.
    Im Gebirge hatte ich viele Felswände erklommen; manche davon waren viel höher als diese hier gewesen, wieder andere – wenigstens dem Anschein nach – viel steiler. Ich rechnete keinesfalls damit, daß ich im Fels nächtigen müßte, denn daß ich im Haus des Anachoreten schlafen könnte, stand außer Frage, sobald ich es sah.
    Das erste Drittel der Besteigung fiel mir leicht. Katzengleich kletterte ich voran und hatte die Wand zur Hälfte bewältigt, als der Abend dämmerte.
    Stets mit guter Nachtsichtigkeit ausgestattet, stieg ich unverdrossen weiter, während ich mir sagte, daß bald der Mond aufginge. Ich irrte. Der alte Mond war erloschen, als ich im Lazarett lag, und der neue würde erst in einigen Tagen geboren. Die Sterne erhellten das Tal, obwohl sich immer wieder ziehende Wolkenbänke verdunkelnd vor sie schoben. Es war ein trügerisches Licht, das mir, außer wenn ich überhaupt keines hatte, schlechter als gar keins vorkam. Unwillkürlich dachte ich an damals, als Agia und ihre Meuchelmörder darauf gewartet hatten, daß ich aus dem unterirdischen Reich der Menschenaffen hervorkäme. Es lief mir heiß und kalt über den Rücken, als erwartete ich, daß gleich ein Armbrustbolzen aufblitzen würde.
    Bald machte mir etwas Schlimmres zu schaffen: ich verlor meinen Gleichgewichtssinn. Das soll nicht heißen, ich wäre völlig dem Schwindel ausgeliefert gewesen. Ich wußte irgendwie, daß unten in Richtung Füße und oben in Richtung Sterne war; aber ein präziseres Erfassen war mir unmöglich, so daß ich nur schlecht abschätzen konnte, wie weit ich mich hinauslehnen dürfte, um einen neuen Griff zu finden.
    Als dieser Sinnestaumel dem Höhepunkt zustrebte, zogen die Wolken in geschlossenen Reihen auf, so daß mich völlige Finsternis umschloß. Hin und wieder bekam ich den Eindruck, die Steigung habe nachgelassen und ich könne aufrecht stehen und gehen. Ab und zu hatte ich das Gefühl, die Wand wölbe sich nach außen – ich müsse mich im Überhang festklammern oder abstürzen. Oft war ich mir sicher, ich sei überhaupt nicht geklettert, sondern weit nach links oder rechts gekrochen. Einmal hing ich fast kopfüber in der Wand.
    Schließlich erreichte ich ein Gesims, auf dem ich rasten wollte, bis es wieder heller wäre. Ich hüllte mich in meinen Mantel, legte mich hin und schmiegte mich eng an den Fels. Ich stieß auf keinen Widerstand. Ich rutschte noch dichter heran und spürte wieder nur Leere. Schon fürchtete ich, daß mein Orientierungssinn ebenso versagte wie mein Gleichgewichtssinn und ich mich umgedreht hatte und nun zum Abgrund drängte. Nachdem ich zu beiden Seiten Fels spürte, rollte ich mich auf den Rücken und streckte die Arme aus.
    In diesem Augenblick zuckte ein schwefelgelber Lichtblitz auf, so daß die Wolken helle Bäuche bekamen. Nicht weit entfernt hatte irgendein mächtiges Geschoß seine tödliche Last entladen; wie ich in diesem grellen Schein erkannte, hatte ich die Spitze des Kliffs erreicht; vom Haus war jedoch nichts zu sehen. Ich lag auf einer nackten Felsfläche; die ersten Regentropfen klatschten mir ins Gesicht.
     
    Am nächsten Morgen war mir elend zumute; frierend aß ich von den Speisen, die ich vom Lazarett mitgebracht hatte, und begab mich auf den Weg, über die andere Seite des hohen Berges, zu dem das Kliff gehörte, abzusteigen. Hier war der Abhang nicht so steil, und ich hatte die Absicht, an der Bergschulter kehrtzumachen, um wieder in das enge Tal zu gelangen, das in meiner Karte eingezeichnet war.
    Es schlug fehl. Nicht weil mir der Weg verwehrt gewesen wäre, sondern weil an der angestrebten Stelle, die ich nach einem langen Marsch erreichte, etwas ganz anderes war, als ich erwartet hatte – ein flacheres Tal mit einem breiteren Fluß. Nachdem ich mehrere Wachen damit vergeudet hatte, die Gegend zu erforschen, ohne Aufschlüsse zu erhalten, entdeckte ich die Stelle, von der

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