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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ich nicht länger bleiben als nötig und damit Eure Güte ausnutzen.«
    Mannea sah zu mir nieder. »Davon bin ich überzeugt. Heute morgen erzählte mir eine Novizin, daß vorgestern abend ein Kranker, dessen Äußeres sie mir beschrieb, mit ihr zur Kapelle gegangen sei. Als du heute abend in der Kapelle zurückbliebst, nachdem alle anderen gegangen waren, wußte ich, daß du dieser seist. Ich habe eine Aufgabe, weißt du, aber keinen, den ich damit betrauen könnte. In ruhigeren Zeiten würde ich eine Gruppe von Sklaven schicken, aber sie sind in der Krankenpflege ausgebildet, und wir brauchen jeden einzelnen davon. Dennoch heißt es: ›Er schickt dem Bettler einen Stock und dem Jäger einen Spieß.‹«
    »Ich möchte Euch kein Mißfallen bereiten, Chatelaine, aber ich glaube, wenn Ihr mir vertraut, weil ich Eure Kapelle aufgesucht habe, so vertraut Ihr mir aus schlechtem Grund. Hätt’ ich, was meint Ihr, nicht auch Juwelen vom Altar stehlen können?«
    »Du meinst, daß Diebe und Lügner oft zum Beten kommen. Durch die Gnade des Schlichters tun sie’s. Glaube mir, Severian, Wandersmann von Nessus, kein anderer tut’s – innerhalb und außerhalb des Ordens. Aber du hast keinen Raub begangen. Wir haben zwar nicht halb so viel Macht, wie die dummen Leute glauben – doch wer glaubt, wir seien ganz ohne Macht, der ist noch dümmer. Willst du einen Gang für mich machen? Ich gebe dir einen Geleitbrief, damit man dich nicht als Deserteur aufgreift.«
    »Wenn Ihr mir das zutraut, Chatelaine.«
    Sie legte mir die Hand auf die Schulter. Das war das erste Mal, daß sie mich berührte, wobei mich ein kleiner Schreck durchfuhr, als hätten mich unerwartet die Schwingen eines Vogels gestreift.
    »Etwa zwanzig Meilen von hier«, erklärte sie, »steht die Klause eines weisen und heiligen Anachoreten. Bis jetzt ist er in Sicherheit, aber da der Autarch während des ganzen Sommers zurückgetrieben worden ist, wird bald der Krieg an diesem Ort wüten. Jemand muß ihn aufsuchen und ihn dazu überreden, zu uns zu kommen – oder dazu zwingen, falls er sich nicht überzeugen läßt. Ich glaube, es ist der Wille des Schlichters, daß du der Bote sein sollst. Kannst du das machen?«
    »Ich bin kein Diplomat«, erklärte ich ihr. »Aber für den anderen Fall, glaubt mir, bin ich dank langer Übung bestens gewappnet.«
     

 
Das Letzte Haus
     
    Mannea hatte mir eine grobe Karte überlassen, worin die Lage der Einsiedelei angegeben war, wobei sie betonte, daß ich, wenn ich den aufgezeigten Weg nicht genauestens einhielte, den Anachoreten höchstwahrscheinlich nicht fände.
    In welcher Richtung, vom Lazarett aus gesehen, seine Klause lag, konnte ich nicht sagen. Die in der Karte aufgeführten Entfernungsangaben bezogen sich auf den Schwierigkeitsgrad, und die Wegbiegungen waren den Verhältnissen des Papiers angeglichen. Zu Beginn zog ich ostwärts, stellte aber bald fest, daß es nordwärts und dann westwärts durch ein schmales Tal mit einem reißenden Fluß und schließlich südwärts ging.
    Im ersten Abschnitt meiner Reise sah ich recht viele Soldaten – einmal ein Spalier aus Zweierreihen am Straßenrand, während die Versehrten auf Maultieren durch die Mitte zurückgeschafft wurden. Zweimal wurde ich aufgehalten, und jedes Mal durfte ich weiterziehen, nachdem ich meinen Geleitbrief vorgezeigt hatte. Er war auf cremefarbenem Pergament geschrieben, dem feinsten, das ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte, und trug das goldene Narthex-Siegel des Ordens. Er lautete:
     
    Dienstschreiben! Der Brief, den Ihr in Händen hält, weist als unsern Diener den Severian von Nessus aus, einen jungen Mann mit dunklem Haar und braunen Augen, blassem Gesicht, schlanker Gestalt und überdurchschnittlicher Größe. Da Ihr das Andenken ehrt, das wir wahren, und hofft, selbst dereinst von uns errettet oder im schlimmsten Fall würdig bestattet zu werden, bitten wir Euch, diesen Severian ungehindert ziehen zu lassen, da er in unserem Auftrage handelt, und ihm zu gewähren, was er an Hilfe braucht oder Ihr an Hilfe zu bieten habt.
    Im Namen des Ordens der Wandernden Schwestern des Schlichters, genannt Pelerinen.
    Die Chatelaine Mannea Novizenmeisterin
     
    Nachdem ich jedoch das enge Tal betreten hatte, schienen sich alle Armeen der Welt aufgelöst zu haben. Ich sah keine Soldaten mehr, und der reißende Strom erstickte das ferne Donnern der Böller und Feldschlangen des Autarchen – falls es hier überhaupt zu hören gewesen wäre.
    Die

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