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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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in ihrem Zimmer, im Entennest, wie das Gasthaus hieß. Sie lag im Bett und war nackt, behielt aber die Decke über sich, wie wenn wir nie miteinander geschlafen hätten – wir, die wir so weit gegangen und geritten waren, die wir unser Lager aufschlugen, wo keine Stimme erklang, seit das Land aus dem Meer gerufen worden war, und Berge erklommen, worauf bis auf die Sonne niemand je den Fuß gesetzt hatte. Wir trennten uns, womit wir beide einverstanden waren, obgleich sie schließlich Angst bekam und mich bat, doch mit ihr zu gehn.
    Sie sagte, ihrer Meinung nach habe die Klaue die gleiche Macht über Zeit wie Vater Inires Spiegel angeblich über Entfernung. Ich habe mir damals nicht viele Gedanken über die Bemerkung gemacht – ich bin wohl kein großer Denker, und ein Philosoph schon gar nicht –, finde sie aber nun sehr aufschlußreich. Sie erklärte mir: ›Als du den Ulanen wieder zum Leben erwecktest, geschah das, indem die Klaue für ihn die Zeit umkehrte bis zum Moment, wo er noch lebte. Als du die Wunden deines Freundes fast heiltest, geschah das, indem sie den Augenblick in einen späteren umwandelte, wo seine Wunden fast verheilt wären.‹ – Ist das nicht aufschlußreich? Nachdem ich dir mit der Klaue in die Stirn gepiekst hatte, gabst du ein recht seltsames Geräusch von dir. War wohl dein Todesröcheln.«
    Ich wartete. Der Soldat sagte nichts, aber zu meiner Überraschung spürte ich seine Hand auf meiner Schulter, was mir verdeutlichte, welch ernsten Hintergrund mein beinahe frivoles Gerede hatte. Wenn’s wahr wäre – auch nur annähernd wahr wäre –, dann hätte ich mit Mädchen gespielt, die ich genausowenig verstände, wie Casdoes Sohn, den ich zu meinem eigenen hatte machen wollen, den gewaltigen Ring verstanden hätte, der ihn ums Leben brachte.
    »Kein Wunder, daß du benommen bist. Es muß schlimm sein, in der Zeit zurückzugehen, und noch schlimmer, den Tod rückwärts zu durchlaufen. Beinahe hätt’ ich gesagt, wie wenn man noch einmal geboren würde; aber ’s ist wohl noch viel schlimmer, denn ein Kind lebt bereits im Bauch seiner Mutter.« Ich zögerte. »Ich … Thecla, meine ich … hatte noch kein Kind.«
    Vielleicht hatte mich nur sein verwirrter Zustand so durcheinandergebracht, daß ich nicht mehr wußte, wer ich sei. Schließlich sagte ich matt: »Entschuldige. Wenn ich müde bin und einschlafen könnte, werd’ ich manchmal fast jemand anders.« (Aus welchem Grund auch immer, der Griff auf meiner Schulter wurde stärker, als ich dies sagte.) »Das ist eine lange Geschichte, die nichts mit dir zu tun hat. Ich wollte sagen, im Atrium der Zeit hatten sich durch den Bruch des Postaments die Sonnenuhren geneigt, so daß die Gnomone nicht mehr richtig zeigten, und ich habe gehört, wenn das passiert, hören die Wachen des Tages auf oder laufen täglich eine Weile rückwärts. Du trägst eine Taschenuhr bei dir, weißt also, daß der Gnomon auf die Sonne zu richten ist, wenn sie korrekt anzeigen soll. Die Sonne ist unbeweglich, während die Urth um sie tanzt, und durch dieses Kreisen wissen wir die Zeit, wie ein Tauber dennoch den Takt einer Tarantella klopfen kann, indem er die Bewegungen der Tanzenden beobachtet. Was aber wäre, wenn die Sonne selbst kreisen würde? Auch dann könnte der Gang der Augenblicke zum Rückzug werden.
    Ich weiß nicht, ob du an die Neue Sonne glaubst – ich bin mir nicht sicher, ob ich daran glauben soll. Aber wenn es sie geben wird, wird sie der wiedergekehrte Schlichter sein, also sind Schlichter und Neue Sonne nur zwei Namen für dasselbe Wesen, und es stellt sich die Frage, warum dieses Wesen »Neue Sonne‹ genannt werden sollte. Was meinst du? Wegen seiner Macht, die Zeit zu bewegen?«
    Nun war mir tatsächlich zumute, als wäre die Zeit stehengeblieben. Um uns herum ragten dunkle, stille Bäume auf; mit der Nacht war es kühl geworden. Mir fiel nichts mehr ein, was ich noch hätte sagen können, und ich scheute mich, Unsinn zu reden, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, der Soldat habe allem, was ich sagte, aufmerksam zugehört. Vor uns bemerkte ich zwei Kiefern mit viel dickeren Stämmen als die übrigen, welche die Straße säumten. Durch sie wand sich ein fahler Weg. »Da!« rief ich.
    Aber als wir zu ihm gelangten, mußte ich den Soldaten mit den Händen packen und an den Schultern herumdrehen, bis er mir folgte. Ich entdeckte einen dunklen Fleck im Staub und bückte mich danach.
    Es war geronnenes Blut. »Wir sind auf dem richtigen

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