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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Näherkommen und senkten sich zu einem Ächzen, wenn sie zurückwichen.
    Wie töricht es ist, in diesen hohlen Augen und marmornen Kalotten nur den Tod zu sehn. Wie viele Freunde darunter sind! Das braune Buch, das ich so weit getragen habe und das mir als einziges von all den Dingen, die ich aus dem Matachin-Turm mitgenommen habe, bis zum heutigen Tage verblieben ist, ist gedruckt, geheftet und gebunden worden von den Männern und Frauen mit diesen knöchernen Gesichtern; und wir, von ihren Stimmen umringt, haben im Namen aller, die vergangen sind, uns die Gegenwart dem strahlenden Licht der Neuen Sonne anheimgestellt.
    Dennoch mußte ich in diesem Moment inmitten dieser bedeutungsschweren und herrlichen Symbolik unwillkürlich daran denken, in welch krassem Gegensatz dazu die Wirklichkeit gestanden hatte, als wir am Tag nach meiner Begegnung mit Vodalus die Zikkurat verließen und (wobei ich unter der Bewachung von sechs Frauen stand, die mich streckenweise sogar tragen mußten) mindestens eine Woche oder länger durch den Pesthauch des Urwalds marschierten. Ich wußte nicht – und weiß es noch heute nicht –, ob wir vor den Armeen der Republik oder den mit Vodalus verbündeten Asciern flohen. Vielleicht versuchten wir lediglich, wieder zum Hauptteil der Aufrührer zu stoßen. Meine Wächterinnen klagten über das Wasser, das vom Laub der Bäume tropfte und wie Säure an ihren Waffen und Rüstungen fraß, und über die drückende Schwüle; ich spürte nichts von alledem. Einmal blickte ich hinab zu meinem Oberschenkel und sah mit Verwunderung, daß das Fleisch abgefallen war und die Muskeln wie Schnüre hervorstanden. Ich konnte die beweglichen Teile meines Knies sehen, wie man die Räder und Wellen einer Mühle betrachten kann.
    Der greise Medicus war bei uns und besuchte mich nun drei-bis viermal täglich. Zuerst bemühte er sich, daß ich immer einen trockenen Verband im Gesicht hätte; als er feststellte, daß dies unmöglich war, entfernte er ihn ganz und begnügte sich damit, die Wunden nur mit seiner braunen Salbe zu bestreichen. Hierauf lehnten es einige meiner Wächterinnen ab, mich anzusehen, und wenn sie genötigt waren, mit mir zu sprechen, taten sie das mit gesenktem Blick. Andere wiederum rühmten sich, mein zerfetztes Gesicht ohne weiteres betrachten zu können, wobei sie sich (eine kriegerische Gebärde nachahmend) breitbeinig hinstellten und mit betont lässiger Miene die Arme auf das Heft ihrer Waffe stützten.
    Ich redete mit ihnen, so oft es ging. Nicht weil ich sie begehrte – die Krankheit, die mit meinen Wunden über mich gekommen war, hatte mir alle solchen Gelüste genommen –, sondern weil ich mich inmitten der Marschkolonne einsam fühlte, so einsam wie im ganzen kriegszerstörten Norden und in meiner modrigen Zelle in der Zikkurat nicht, und weil ich mir in irgendeinem absurden Winkel meines Geistes immer noch ausmalte, fliehen zu können. Ich befragte sie zu allem, worüber sie irgendwie Bescheid wüßten, und war unendlich verblüfft festzustellen, wie wenig Gemeinsamkeiten wir hatten. Nicht eine der sechs hatte sich Vodalus angeschlossen, weil sie hinter seinem erklärten Bestreben stehe, der stagnierten Republik wieder zum Fortschritt zu verhelfen. Drei waren lediglich einem Mann zu den Truppen nachgelaufen; zwei waren dabei, weil sie hofften, ein persönliches Unrecht rächen zu können, und eine, weil sie einem verhaßten Stiefvater davongerannt war. Alle bis auf letztere bereuten nun diesen Schritt. Keine wußte genau, wo wir gewesen waren oder wohin wir gingen.
    Als Führer hatte unser Zug drei Wilde: zwei Jünglinge, die Brüder oder sogar Zwillinge hätten sein können, und einen betagten Mann, der sowohl durch Mißbildungen als auch sein Alter verkrüppelt war und unablässig eine bizarre Maske trug. Obschon das Paar jung und der Krüppel alt waren, erinnerten sie mich an den Nackten, den ich einst im Dschungelgarten gesehen hatte. Sie waren ebenso nackt und hatten die gleiche dunkle, metallische Haut und das gleiche glatte Haar. Die beiden Jüngeren trugen Cerbotanas, die länger als ihre ausgebreiteten Arme waren, und Pfeilköcher aus handgeknüpfter wilder Baumwolle, die gewiß mit irgendeinem Pflanzensaft bergbraun gefärbt waren. Der alte Mann hatte einen Stock, der so krumm war wie er selbst, worauf der gebleichte Schädel eines Äffchens steckte.
    In einem gedeckten Palankin, der viel weiter vorne im Zug als ich seinen Platz hatte, wurde der Autarch getragen. Wie

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