Die Zuckerbäckerin
kommen?
Gustav rief nach ihr. Melia erkannte, daà das Bühnenbild für die nächste Szene umgebaut war. Sie war an der Reihe.
Dreimal lieà sie sich auf einer Sänfte auf die Bühne tragen, um dem Mond in einer sternenhellen Nacht mit einer perlenden Arie ihr Liebesleid kundzutun. Dreimal stockte sie an derselben Stelle und muÃte neu beginnen. Jedesmalwenn sie zu »La Luna« aufschaute, blickte sie direkt in Sonias hämische Augen. Hätte sie ein Messer zur Hand gehabt, sie hätte nicht gezögert, es dem jungen Luder in den Leib zu rammen! Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, als sie erneut in ein tiefes, dunkles Loch fiel: War das wirklich sie selbst, die solche Mordgelüste hegte? Was drohte nur aus ihr zu werden?
Endlich, beim vierten Versuch, gelangte sie glockenrein und ohne zu stocken ans Liedende. Lindpaintners Erleichterung und die der anderen war nicht zu übersehen. Daà sogar Melia Schwierigkeiten mit dem neuen Stück hatte, wirkte auf ihre Mitspieler nicht gerade beruhigend. Melia war ihr Vorbild, ihre Hoffnung: Wer es schaffte, so lange berühmt zu sein â an dem galt es sich zu orientieren. Kam sie mit dem neuen Stück zurecht, würde ihnen das auch gelingen.
Später in ihrem Boudoir saà Melia lange Zeit fast reglos vor dem Spiegel. Hin und wieder strich sie sich mit einer ihrer weichen Bürsten durch das ausgekämmte Haar, doch jedesmal sank ihre Hand wieder müde in den SchoÃ. Bei jedem Blick in den Spiegel entdeckte sie eine andere Person: Einmal war es ihr »früheres Ich«, wie sie die Person im Geist nannte. Unbeschwert, lachend, jung. Bewundert von der ganzen Theaterwelt, gefeiert vom Publikum, hofiert vom ersten Mann im Land. Doch dann verschwand diese strahlende Gestalt in dichtem Nebel, und ein älteres Gesicht starrte ihr entgegen. Sie erschrak. War das ebenfalls sie selbst? So wie sie in einigen Jahren aussehen würde? Ein paar tiefe Falten um die Augen mehr, silberne Strähnen in der glatten Haarpracht, der Mund welk, verblüht wie eine drei Tage alte Rose? Nein, so wollte sie nicht aussehen! Sie schloà die Augen.
Sonia! Sie war an allem schuld! Nicht genug, daà sie sichan ihrer Geldbörse vergriff â auch auf Melias Seelenheil hatte sie es abgesehen! Woher sollten sonst diese düsteren Gedanken kommen? Bald würde der Wahnsinn sie völlig in der Hand haben! Von Sorgen zerfressen würde sie vor Lindpaintner auf die Knie fallen müssen, um für die geringste Komparsenrolle zu betteln!
Nein! Sie schlug mit beiden Handflächen so heftig auf die Spiegelkommode, daà die Parfümflakons und Cremetiegel vibrierten. So weit würde sie es nicht kommen lassen! Sie würde sich zusammenreiÃen. Nichts und niemand â und das Luder Sonia schon gar nicht â würde ihren Ruf ankratzen, als handle es sich um unedlen Tand! Sie würde auch in Zukunft die junge Liebhaberin und nicht deren Schwiegermutter spielen. Sie würde auch weiterhin die Geliebte des einfluÃreichsten Mannes im Lande bleiben. Und sie würde sich auch weiterhin als Grande Dame des Stuttgarter Theaters feiern lassen, ohne daà für immer ein dunkler Schatten im Hintergrund auf sie lauerte! Es war an der Zeit, dem elendigen Spuk ein Ende zu machen.
Für einen kurzen Augenblick wägte sie noch das Für und Wider ab. Doch dann siegte ihre Entschlossenheit. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie durfte gar nicht darüber nachdenken â¦
Ohne anzuklopfen stürmte sie in Sonias Kammer. Sie lag zwar unter dem Dach, war aber dennoch eine der geräumigsten im ganzen Hause. SüÃer Veilchenduft hing in der Luft und verursachte in Melia den Drang zu würgen.
Sonia saà ebenfalls vor dem Spiegel und ging dort ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: sich zu verschönern. Dabei wurden ihre Augen mit jedem Strich ihres Kohlestiftes schwärzer, ihre Wangen mit jeder Schicht Puder blässer, ihre Lippen mit jedem Griff in den Fettiegel dunkelroter, künstlicher. Ihr Mund wirkte wie eine riesige Wunde,umrandet von zwei fleischigen Wülsten. Doch das schien Sonia nicht zu stören. Betont langsam drehte sie sich zu Melia um und ignorierte deren Aufregung.
»Melia!« Mit einem arglosen Lächeln auf den Lippen, als stünden sich beste Freundinnen gegenüber, winkte sie die ältere Frau in den Raum.
»Sonia.« Melias Stimme klang frostig wie der
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