Die Zuckerbäckerin
Nacht ist kalt. Wo blieb Maman? Warum bekam Papa so spät noch Besuch? Noch dazu hier, im part privée des Schlosses.
Schreie! Dumpfes Poltern, Rufe. Noch mehr Schreie.
Das Mädchen bekommt Angst. Es will zurück ins Zimmer, doch seine FüÃe sind am Boden angewachsen. Wieder ein Lichtstrahl auf dem Gang, schnell. Alexander!
Sie will nach ihrem Bruder rufen, doch kein Ton kommt aus ihrer Kehle. Will die Hand ausstrecken â gelähmt wie ihre Beine. Dann noch mehr Schatten vorbei am Türspalt, Alexander in ihrer Mitte. Er schreit, weint, und sie zittert vor Angst. Tränen laufen über ihre Wangen, sie â¦
»Nein!!!« SchweiÃnaà schreckte Katharina hoch. Wild suchten ihre Augen den Raum ab. Wo war sie? Was war geschehen? Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, ihr Atem ging rasend schnell und stockend zugleich. Nur ein Alptraum. Sie sank in ihr Kissen zurück, der Rücken feucht und kalt vom SchweiÃ. Nichts war geschehen, sie war im Stuttgarter SchloÃ, alles war wie immer.
Nur ein Alptraum. Immer wiederkehrend, immer der gleiche. Oder doch nicht? Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, daà sie weitergeträumt hatte als in den Angstträumen der vergangenen Jahre. Die Musik, die langen dunklen Gänge â beides kannte sie aus unzähligen Nächten. Dazu die unbestimmte Angst, das Wittern einer sich nähernden Gefahr. Wie ein dichter, undurchlässiger Kokon hatte sich diese Angst jedesmal um sie gelegt, Schicht für Schicht, hatte ihr die Luft zum Atmen genommen, bis sie aufwachte. Anders dieses Mal: Das Mädchen im Traum war sie selbst! Und der Traum war gar kein Traum allein, dies alles hatte stattgefunden! Ein unfreiwilliges Stöhnen kroch aus ihrer Kehle. Sie hatte das Rätsel ihrer düsteren Nächte entschlüsselt. Warum gerade jetzt?
Noch nie hatte Katharina sich so allein gefühlt. Ihre Wangen glühten, ihr Kopf brannte wie Feuer. Warum nur saà niemand an ihrem Bett, der ihre Hand hielt und dem sie von der grausamen Nacht im MichaelsschloÃ, von derErmordung ihres Vaters, dem Zaren Paul I., hätte erzählen können? Langsam, Stück für Stück, kam der ganze Schrecken jener Tage zurück: Der laute Aufschrei am nächsten Morgen, als der Ermordete in seinem Schlafgemach entdeckt wurde, die spontanen Freudenfeste in der ganzen Stadt über den Tod des verhaÃten Tyrannen, ihre eigene, unendliche Schuld über die tief drinnen verspürte Erleichterung, darüber, nichts getan zu haben, zugesehen zu haben. Maman, die mit keinem Wort auf das Verbrechen einging. Die mit steinerner Miene den Beisetzungsfeierlichkeiten beiwohnte. Alexander, der ebenfalls keine Zeit für die Fragen der Schwester hatte.
Wie die Steinchen in einem Mosaik fügte sich nun alles zusammen, doch bei diesem Mosaik fehlten die Farben. Alles war nur schwarz und weiÃ. Wie ihre Alpträume.
»Ewige Schlaflosigkeit â ist das die Strafe für meine Sünde?«
Sie erschrak. War noch jemand auÃer ihr im Raum? Nein, die brüchige, schwächliche Stimme war ihre eigene.
»Wilhelm â wo bist du?«
Wo waren ihre Kinder, wo ihr Gatte? Etwas Quälendes schlich sich in ihren Kopf, wand sich um ihre mühsamen Gedanken wie eine Schlange. Ihr war, als sei ihr Hirn ein einziger luftleerer Raum. Bevor sie weiterdenken konnte, verlor sie das BewuÃtsein.
Als sie das nächste Mal aufwachte, spürte sie die Gegenwart anderer an ihrem Bett. Sie roch das süÃe Parfüm von einem ihrer Ãrzte und konnte sich nicht daran erinnern, welchem der beiden Männer es zuzuordnen war. Sie versuchte die Augen zu öffnen. Vergeblich. Sie spürte einen Atem ganz nah über sich. Hörte Stimmen.
»Sie schläft.«
»Was spricht sie? Ich kann keines ihrer Worte verstehen.«
»Sie phantasiert.«
»Jetzt spricht sie russisch. Vielleicht sollten wir jemanden holen, der der Muttersprache der Königin mächtig ist?«
Nun hörte sie eine Frauenstimme. Spröde, hell. Fräulein von Baur, ihre Hofdame. Sie sagte etwas zu den beiden Ãrzten, doch auch ihre Worte ergaben keinen Sinn. Diese Schmerzen! Diese unglaublichen Schmerzen auf der rechten Gesichtshälfte. Oder war es die linke? Warum tat keiner der Ãrzte etwas dagegen? Vielleicht wuÃten sie nichts davon. Sie muÃte es ihnen sagen. Endlich konnte sie ihre Augen halb öffnen, doch
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