Die Zuflucht der Drachen - Roman
leuchtest sehr hell, Kleine«, sagte der Drache. Jedes Wort klang wie drei Frauenstimmen, die zusammen einen dissonanten Akkord hinausschrien.
Kendra tropfte und zitterte und konnte sich nicht bewegen. Sie wollte antworten, aber ihre Kiefer waren wie verriegelt. Ihre Lippen zuckten. In ihrem Kopf hielt sie eine Antwort parat. Sie wollte sagen: »Nicht so hell wie du.« Aber ihr Mund weigerte sich, die Worte zu formen. Kendra gab nur ein schwaches Stöhnen von sich.
»Keine letzten Worte?«, fragte der Drache. »Wie enttäuschend.«
Seth hing in der Nähe der Rucksacköffnung an der Leiter. Er blickte zu Bubda hinab. »Der Drache hat sie erwischt. Kendra kann nicht sprechen.«
»Da kannst du nichts machen«, warnte der Troll. »Bleib lieber am Leben und verschieß dein Pulver ein andermal.«
Wegen der Klappe hatte Seth natürlich nichts sehen können, und die Bewegungen während der Verfolgungsjagd waren im Rucksack nicht zu spüren gewesen, aber er hatte die verzweifelten Geräusche mitbekommen. Seth hatte keine Ahnung, was Perytons waren, aber dass es viele waren und dass ein Drachen sie jagte, hatte er bemerkt. Das donnernde Brüllen des Drachen hatte Bubda dermaßen erschreckt, dass er in die entlegenste Ecke des Vorratsraums gehuscht war, wo er sich jetzt ängstlich zusammenkauerte.
»Ich bin ein Schattenschmeichler«, betonte Seth. »Vielleicht kann ich mit dem Drachen sprechen.«
»Besser, wir spielen noch eine Runde Kniffel.«
»Wünsch mir viel Glück.« Seth schlug die Klappe zurück und kletterte aus dem Rucksack. Er befand sich neben Kendra am Ufer eines Teichs. Der Drache vor ihnen war größer, als Seth erwartet hatte: der schwielige Kopf so ausladend wie ein Auto, die Klauen länger als Schwerter, der Leib ein gewaltiger Hügel aus blitzenden Schuppen und im Umfang nur mit einem Wal vergleichbar.
»Noch einer?«, rief der Drache in seiner dreifach klingelnden Stimme. »Ähnliche Gesichtszüge – Geschwister, würde ich vermuten. Aber Gegensätze. Der eine dunkel, die andere hell. Hast du eine flinkere Zunge als deine Schwester?«
Seth nahm Kendra nicht mehr wahr. Er hatte keine Angst, verspürte keine Lähmung, aber er war absolut fasziniert von seinem Gegenüber. Diese Augen waren wie Juwelen, die von einem strahlenden inneren Feuer belebt wurden. Unter dem hypnotischen Blick verlor Seth jedes Gefühl für die Dringlichkeit der Situation.
»Eine doppelte Enttäuschung«, klagte der Drache. »Ich nehme an, Schweigsamkeit liegt bei euch in der Familie? Wen soll ich als Erstes verschlingen? Licht oder Dunkelheit? Vielleicht beide zusammen?«
Der Drache richtete seinen Blick wieder auf Kendra, und Seth sah zu seiner Schwester hinüber. Hatte der Drache gesagt, dass er beabsichtigte, sie zu fressen? Ihm schwirrte der Kopf. Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht, dass seine Schwester starb. In Erwartung zuschnappender Drachenzähne ergriff er Kendras Hand. Ganz plötzlich strömte eiskalte Klarheit durch seinen Geist.
»Weder noch!«, platzte Kendra heraus und quetschte Seths Finger. »Sollten wir uns nicht zuerst miteinander bekanntmachen?«
»Sie kann sprechen!«, rief das Drachenweibchen aus, und seine Augen wurden zu Schlitzen. »Warum dieses Zögern?«
Seth starrte dem Drachen in die Augen. »Wir waren erst einmal völlig überwältigt.« Der Drache wirkte immer noch beeindruckend, aber egal welcher Zauber auch immer sein Denken getrübt hatte, er konnte Seth nun nichts mehr anhaben.
»Wir haben noch nie zuvor einen so spektakulären Drachen gesehen«, stimmte Kendra zu.
Die Drachendame senkte den Kopf zu ihnen herab, und sie konnten den feuchten Atem aus ihren breiten Nüstern spüren. »Ihr habt schon einmal mit Drachen gesprochen?«
»Nur mit ein paar«, antwortete Kendra. »Und keiner war so beeindruckend wie du.«
»Ihr habt meine Jagd gestört«, knurrte der Drache. »Ich habe seit Ewigkeiten keine Menschen mehr gesehen. Der Reiz des Neuen hat mich abgelenkt. Ihr gehört nicht hierher.«
»Wir haben nicht vor, lange zu bleiben«, sagte Seth.
Der Drache gab ein melodisches Summen von sich, das Seth wie ein Kichern erschien. »Ihr habt meine Pläne durchkreuzt. Vielleicht sollte ich die Gefälligkeit erwidern.«
»Wir schmecken nicht gut«, meinte Seth warnend. »Kendra ist knochiger, als sie aussieht, und ich wasch mich nicht oft.«
»Wie wäre es mit einem Spiel«, schlug der Drache vor. »Ich werde mir noch den Rest eurer Truppe schnappen. Da waren noch sechs andere,
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