Die Zuflucht
» Gute Nacht, Zwei.«
Ich lief die Treppe hinauf, und die Laterne warf zuckende Schatten an die Wand. In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett und las den Absatz, den Mrs. James uns aufgegeben hatte. Wir sollten einen Aufsatz darüber schreiben, aber das dauerte mir zu lange, und ich wandte mich lieber dem Rechnen zu. Mit Zahlen konnte ich besser umgehen als mit Buchstaben. Ich fand Rechnen weit sinnvoller als Lesen und Schreiben, denn mit Zahlen konnte man Bestandslisten von wichtigen Vorräten führen. Nachdem das erledigt war, beschäftigte ich mich wieder mit dem bescheuerten Aufsatz und zerbrach mir den Kopf, was die Worte, die ich las, zu bedeuten hatten. Mrs. James würden die Zeilen bestimmt nicht gefallen, die ich schrieb. Wahrscheinlich würde sie wieder vor der ganzen Klasse meine Fehler verbessern.
Ich hatte Schlimmeres durchgemacht. Sollten die Bälger nur über mich herziehen und die Frauen hinter meinem Rücken tuscheln. Mochten mich auch schlimme Erinnerungen und Albträume plagen, mochten da drauÃen auch die Freaks lauernâ ich würde es durchstehen, egal was kam.
Sobald ich sicher war, dass meine Pflegeeltern schliefen, zog ich mir etwas Dunkles an und schlüpfte aus dem Fenster. Ich hatte zwar keine Glocken gehört, aber ich musste dringend mit Draufgänger sprechen. Wie jede Nacht würde ich ihn auf seinem Wachposten vorfinden. Ich hielt mich in den Schatten der Häuser verborgen, blieb zweimal hinter eine Ecke stehen, um nicht entdeckt zu werden, und kletterte schlieÃlich die Leiter hinauf.
Ich erkannte ihn an dem weiÃen Haar, das im Mondlicht schimmerte. Er hielt Altes Mädchen auf dem Schoà und spähte hinaus in die Dunkelheit.
» Du schläfst wohl nie, was?« Aus der barschen BegrüÃung hörte ich einen freundlichen Unterton heraus.
» Manchmal«, erwiderte ich.
» Hast immer noch nicht genug davon, mir auf die Nerven zu gehen?« Er massierte gedankenverloren sein Knie, als würde ihn der Schmerz schon so lange begleiten, dass er sich gar nicht mehr erinnern konnte, wie es ohne ihn war.
» Ich habe ein paar Fragen.«
» Hast du immer, wieâs scheint.«
» Vermisst dich niemand zu Hause?« Das war nicht, was ich wissen wollte. Die Frage platzte einfach so aus mir heraus. Aber Draufgänger war immer, immer auf Wache.
» Nicht mehr«, antwortete er leise. » Was willst du diesmal wissen, Zwei?«
Ich straffte die Schultern. » Ich möchte bei den Sommerpatrouillen dabei sein. Ich bin bereit, vor den Augen aller anderen Wachen zu kämpfen, um mich zu beweisen, aber ich wollte dir vorher Bescheid geben. Wenn du dagegen bist, dann lasse ich esâ¦Â«
Draufgänger hob die Hand. » Nett von dir, dass du auf mich Rücksicht nimmst. Wenn du es schaffst, die anderen zu überzeugen, nehme ich dich mit. Aber du wirst ihnen schon was zeigen müssen, Mädchen.«
» Das werde ich«, versprach ich. » Wann soll ich meine Bitte offiziell machen?«
» In zwei Wochen beginnen wir mit der Saat. Das wäre ein guter Zeitpunkt.«
» Danke.«
» Bedank dich noch nicht. Deine Bitte wird einigen Leuten gehörig gegen den Strich gehen.«
» Wenn du an ein Feuer kommst, an dem alle kochen, und sie lassen dich nicht mitmachen, obwohl du genauso gut bist wie sie, was würdest du dann tun?«
Er lächelte und fuhr sich mit zwei Fingern über die Augenbraue. » Ich schätze, das Gleiche wie du.«
Eine Weile hielten wir gemeinsam schweigend Wache. Diese Stunden des Tages waren mir die liebsten, denn Draufgänger hielt mich nicht für seltsam oder verrückt. Bei ihm konnte ich einfach ein Mädchen sein, das anders war als alle anderen.
» Wann fährst du los, ich meine, auf deine Handelstour?«, fragte ich schlieÃlich.
» Im Herbst, nachdem wir geerntet haben. Bevor der Schnee fällt, bin ich wieder zurück.«
Ich dachte daran, wie er uns gefunden hatte. Ohne zu zögern, hatte er uns alle samt Verpflegung und Ausrüstung auf seinen Wagen geladen und uns das Leben gerettet. Ich würde mich revanchieren, sollte sich eines Tages die Gelegenheit bieten. » Kann ich dir vielleicht dabei helfen?«
» Warum? Hast du Interesse, mein Lehrling zu werden?«
» Vielleicht.« Mir wurde heiÃ, während ich darauf wartete, dass er mir die Gründe aufzählte, warum das nicht ging: weil ich zu jung war,
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