Die Zukunft ist ein toller Job (German Edition)
neue Situation zu gewöhnen. So nah waren sie sich noch
nie gewesen.
„Ganz schön tapfer von dir“, sagte Marie
schließlich. „Es ist nämlich ekelhaft hier drin. Was meinst du, was ich für
Sekrete absondere.“
„Lass mich mal schmecken“, sagte er, rollte
sich zur Seite und wollte sie küssen. Aber sie drehte den Kopf weg.
„Siehst du nicht, dass ich ein Herpesbläschen
an der Oberlippe hab?“
„Ich kann ja an deiner Unterlippe knabbern.“
„Da steckst du dich genauso an.“
„Bei so was hab ich mich noch nie angesteckt.“
„Das ist ja sehr interessant.“
„Außerdem wäre es jetzt eh zu spät.“
„Ich will aber nicht geküsst werden, und damit
Schluss. Scheißfieber, Scheißschweiß, Scheißleben!“
„Lenk dich ab, Marie. Du kannst mir ja wieder
von früher erzählen, von ganz früher.“
„Dazu bin ich zu müde.“
„Dann schlaf ein bisschen“, sagte er, bettete
ihren Kopf an seine Schulter und redete ihr zu wie einem kranken Kind: „Mach
die Augen zu, richtig zumachen. Ganz ruhig atmen und an was Schönes denken. Gute
Nacht, Marie.“
„Sag das nicht.“
„Okay, dann nicht“, sagte er und wollte das
Nachttischlicht ausknipsen.
„Nein, lass es an, bitte“, sagte sie.
Dann schlief sie tatsächlich ein. Währenddessen
hielt Jonas sie in den Armen und betrachtete sie. Er sah ihre Stirn mit dem
verschwitzten Haaransatz, ihre braun gebrannte Gesichtshaut, die trotzdem
durchscheinend und zart wirkte, ihren fein geschnittenen Mund mit den
schmerzlich verzogenen und im Moment arg malträtierten Lippen … Tapfere kleine
Marie! Sie war so empfindsam, so verletzlich, so schutzlos. Und er wusste auch,
woran das lag.
Mittlerweile hatte er begriffen, dass er bei
ihr zwischen „früher“ und „ganz früher“ unterscheiden musste. Damit war der
Zeitraum vor und nach ihrer Entführung gemeint. Auf „ganz früher“ durfte er sie
gern ansprechen. Auf dieses Thema ging sie bereitwillig ein. Dann fing sie
sofort an zu erzählen: von der Sehnsucht nach ihrer Tante, von dem Heimweh nach
Ferien auf dem Land, von ihrem Drang nach Freiheit ...
Nach „früher“ hingegen durfte er sie nie
fragen, und wenn er es doch tat, gab sie ihm mit einem rüden Anschnauzer oder
einem schmerzhaften Puff in die Rippen zu verstehen, dass er die Klappe halten
sollte.
Was hatten diese Mistkerle bloß mit ihr
gemacht?, überlegte er. Sie gefoltert, missbraucht und dann wie Müll am
Straßenrand entsorgt? Wenn er daran dachte, lief es ihm kalt den Rücken
herunter. Auf jeden Fall mussten diese zwei Wochen eine fürchterliche Zeit für
sie gewesen sein. Geradezu vernichtend. Ein Abgrund aus Leid und Schmerz. Ihr
Körper hatte die Grausamkeiten überlebt, aber ihre Seele war übel zugerichtet
worden und würde sich wahrscheinlich nie davon erholen. Es musste ein Albtraum
für sie gewesen sein, nicht zu wissen, ob sie die Sache lebend überstehen und
ob sie jemals wieder nach Hause kommen würde. Sie hatte mehr erlebt, als ein
Mensch mit sich herumtragen konnte. Vielleicht kam daher ihr Drang, sich nicht
einsperren zu lassen. Vermutlich hatte sie sich nur einen Hund angeschafft,
damit sie einen Beschützer hatte und dreimal am Tag an die frische Luft durfte.
Wahrscheinlich hatte sie sich seit der Entführung nie wieder sicher gefühlt und
jedes Vertrauen in die Menschheit verloren. Vielleicht konnte er sie irgendwann
aus diesem Zustand herauslösen und sie dazu bringen, sich zu öffnen. Dann wäre
ihre Liebe nicht mehr frisch und fragil, sondern fest und stabil. Sie wäre wie
ein sicherer Hafen, in dem sie beide ankern konnten.
Marie schlief bis Mitternacht, und als sie
aufwachte, hatte Jonas wieder eine seiner glorreichen Ideen: „Weißt du was? Wir
machen jetzt ein Spiel.“
„Mitten in der Nacht?“, fragte sie unwillig und
rieb sich mit den Knöcheln der Zeigefinger die Augen.
„Wann denn sonst? Tagsüber können wir uns ja
nicht sehen. Also, es geht so: Wir sagen uns gegenseitig, was das Beste wäre,
das uns passieren könnte. Und dann sagen wir uns, was das Schlimmste wäre, das
uns zustoßen könnte.“
„Was soll das denn? Ich steh nicht auf so was.“
„Aber dann lernen wir uns besser kennen. Wir
könnten mit dem Negativen anfangen und uns dann zum Positiven hocharbeiten.
Also, wovor hast du Angst? Wovor hast du so viel Schiss, dass du schreiend
davonlaufen könntest.“
„Das ist mein Geheimnis.“
„Verrat es mir.“
„Wie sollen Geheimnisse geheim bleiben, wenn
man sie in die
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