Die Zusammenkunft
Felsklotz, der meine Aufmerksamkeit erregt.
Die Stimmen mehren sich, während ich darauf zugehe. Wissen strömt mir zu. Allmächtiger Vater .
Nicht viel höher als ich selbst, ragt der Gesteinsbrocken aus dem rissigen Boden. Schwüle Hitze umgibt mich. Salziger Wind zerrt an meinem Gewand .
Einen Moment habe ich Mühe, mich an mich selbst zu erinnern. An meine Herkunft und die Absicht, die ich mit meinen Brüdern und Schwestern verfolge. Ich war der Macht, die uns dem Grab entriß, nie ferner als hier und jetzt, das spüre ich mit jeder Faser meines Seins!
Ich taste über rauhen Stein, während in meinem Hirn ein Chaos tobt, geschürt noch von den Stimmen.
Plötzlich versinken meine Hände in scheinbar festem Stein wie in einem nachgiebigen Morast.
Ich vermissen die Genugtuung über meine Entdeckung. Bis zu den Ellbogen schiebe ich die Arme in den Stein, ehe ich sie zurückhole.
Hier - hier an dieser Stelle gibt es ein Nadelöhr, das zurück in den endlos scheinenden Korridor führt, in den wir bei Uruk marschiert sind.
Ich wende mich der Stadt zu. Der Fels ist markant, ich werde ihn wiederfinden.
Noch bevor ich die ersten Häuser erreiche, kommen sie mir entgegen: die, die ich hier nie erwartet hätte - genau wie sie mich nicht.
»Jada!« ruft Natan mir zu und winkt.
Die Gesichter meiner Geschwister sind Spiegel meiner eigenen Verwirrung.
»Wie konnte das geschehen?« rinnt es aus meinem Mund. Ich weiß, daß sie keine Antwort für mich haben. Sie wissen es auch nicht.
Ein jeder von ihnen, das wurde mir längst klar, schritt zu einem anderen Tor des Korridors und ging hindurch. Wie kann es dann aber sein, daß wir uns hier alle am selben Punkt der Zeit wiedertref-fen?
Es widerspricht dem, was wir über dieses Phänomen zu wissen glaubten. Es widerspricht allem und durchkreuzt auch den letzten Rest von Hoffnung .
»Diese Stadt«, sagt Gideon, »ist tot. Weder Mensch noch Tier leben darin.«
»Uruk«, murmele ich. »Es ist Uruk in ferner Vergangenheit ... Wie fern?«
»Es gibt keine Möglichkeit, dies zu erfahren«, sagt Zoe. »Seht euch um: Wie wüst und leer alles wirkt. Als wäre sämtliches Leben ertränkt und fortgespült worden!«
Niemand erwidert etwas darauf. Auch ich nicht.
Plötzlich werden die Blicke der anderen ganz starr, wie gläsern, und sie bewegen sich nicht mehr.
Was für ein Moment!
Vorhin, beim Passieren des Tores, war es ähnlich: Der Kontakt zu den meinen riß vorübergehend ab - zum ersten Mal in diesem Leben waren jene immateriellen Nabelschnüre gekappt, die uns zu einem Kollektiv der Individuen machen.
Ein leiser Schrei entflieht meiner Kehle. Ich meine den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Natan ... Loth ... Maryam ...«
Die Starre fällt von ihren Körpern, und als ich schon hoffe, daß die Normalität zurückkehrt, geschieht das Gegenteil: Stumm setzen sie sich in Bewegung, schreiten auf die Stadt zu, aus der sie gerade kamen!
Ich hastete Gideon hinterher, der mir am nächsten steht. Er läuft wie die anderen Richtung Stadt.
Was geschieht? Wo ist die Verbindung, die uns nie im Stich ließ? Die Bande, stärker als die Distanzen, die uns trennen? Ich müßte wissen, was in meinen Gefährten vorgeht - mich müßte bewegen, was sie bewegt. Aber wir sind getrennt.
Hat der Korridor der Zeit damit zu tun? Oder verbirgt sich etwas in der Stadt, womit wir nicht rechnen konnten? Etwas . Mächtiges?
Es muß mächtig sein, denn meine Geschwister tanzen nach seiner Pfeife. Blicklos schreiten sie gen Uruk. Wenn es denn Uruk ist.
Ich überhole Gideon und stelle mich ihm in den Weg, rüttele ihn an den Schultern und schreie ihn an: »Komm zu dir! Was geht hier vor? Gideon!«
Er schleudert mich zu Boden. Seine Rücksichtslosigkeit entsetzt mich mehr als seine Kraft. Benommen bleibe ich sitzen, unfähig, neue Initiative zu entfachen.
Meine Brüder und Schwestern aus dem Grab entfernen sich.
Mühsam, als drückten Zentnergewichte auf meine Schultern, schließe ich mich ihnen an, ehe sie meinen Blicken entschwinden. Ich darf sie nicht verlieren! Ohne sie bin ich nichts .
Die Straßen der untergegangenen Stadt nehmen mich auf.
Was ist hier passiert - und wie lange ist es her? Wie tote Augenhöhlen glotzen mich Fenster an.
Ich weiß nicht, wie lange wir die Stadt durchqueren, bis wir aus dem Labyrinth der Gassen auf einen freien Platz treten und ein Bauwerk in mein Blickfeld gerät, das alle anderen verlassenen Gebäude überragt. Es steht auf einem Hügel. Und vom
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