Die Zusammenkunft
erreichbar. Es hatte Vorteile, wenn man für ein IT-Unternehmen arbeitete. Hier zählten Erreichbarkeit und Effektivität, nicht stumpfe Anwesenheit.
Seit sie bei der MICROBANK war, arbeitete sie viel mehr als früher, konnte sich aber ihre Zeit besser einte ilen. So hatte sie sich zum Beispiel einen festen sportlichen Trainingsablauf erarbeitet, der nur für ganz außergewöhnliche Situationen unterbrochen wurde. Ihre jetzige körperliche Verfassung war eine dieser besonderen Situationen. Neben den zahlreichen Blutergüssen spürte sie auch die schmerzhaften Folgen von Zerrungen, was ja auch nicht unbedingt verwunderlich war. Sie legte sich also gleich nach ihrer Ankunft ins Bett.
Omma und Kim hatten die Fisch-Übelkeit-Sturz-Geschichte ebenso schnell akzeptiert wie Robert. Sie wusste, dass sie ihre Ruhe haben würde, und hoffte, dass sie zuhause sicher war, denn das Wort Sicherheit hatte seit gestern Abend einen neuen Stellenwert in ihrem Leben bekommen.
Die nächsten zwei Tage verbrachte sie fast ausschließlich im Haus. In der Abenddämmerung erlaubte sie sich allerdings, getarnt mit Baseball-Cap und Sonnenbrille, mit Herby durch den Wald zu walken. Die Vorkommnisse in Dresden kamen ihr immer wieder in den Sinn und das nicht nur, weil sie permanent von ihrem Spiegelbild daran erinnert wurde. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass es tatsächlich passiert war, dass die Augen aus ihren Träumen zu ihr gekommen waren. Sie musste auf einem Schlachtfeld gestanden haben und durch einen Stich ins Herz gestorben sein. Der Mann mit seinem großen, extrem erotischen Körperbau, der konnte nicht real sein! Augen wie seine konnten nicht real sein.
Aber ihre Verletzungen waren real. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Na gut, dann gab es ihn also wirklich. Aber er war nicht gefährlich, denn sie war es gewesen, die völlig durchgedreht war. Er war so weit Gentleman geblieben, dass er sie vor den Blicken der anderen beschützt und sie wieder in ihr Bett gelegt hatte. Er hatte ihr nichts getan. Wieso war sie so außer Rand und Band geraten? Lag es vielleicht an ihren Hormonen? Sie war noch nie einem Mann begegnet, von dem sie sich so rückhaltlos angezogen gefühlt hatte. Ihre ständige, unter der Oberfläche brodelnde Abneigung gegen Männer war offensichtlich nicht mit seiner animalischen Anziehungskraft zurechtgekommen. Sie war ihm wirklich dankbar, dass er ihr nicht noch eine Anzeige wegen Körperverletzung verpasst, sondern sich ganz diskret zurückgezogen hatte, nachdem er sie versorgt hatte. Sie hoffte so sehr, dass er sie bald vergessen würde, so wie sie auch versuchen würde, ihn zu vergessen. Das Leben musste weitergehen, ihr Bauchgefühl würde leider schweigen müssen. Nun war Verstand gefragt, nicht Intuition.
Am Dienstagabend rief Robert an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. »Alles gut, ich werde morgen wi eder im Büro sein«, antwortete sie.
Die nächsten Tage und Wochen verliefen ganz normal. Sie verbrachte viel Zeit in der Firma, da man ihr als Projektleiterin zwei neue Projekte übertragen hatte. Seit ein paar Tagen arbeitete eine neue Kollegin in ihrer Abteilung. Sie war jung und hübsch, wenn vielleicht auch etwas naiv. Sie kamen jedoch prima miteinander aus und Lora, so hieß sie, band sich immer mehr an Sirona. Sie hatte schulterlange rote Locken und Sirona fand, dass sie eigentlich dem typischen Männertraumbild entsprach.
Es gelang Sirona gut, Dresden zu verdrängen und sich voll auf die Arbeit und auf ihre Tochter zu konzentrieren. Kim würde im Sommer wieder einmal ein Top-Zeugnis nach Hause bringen. Sirona fühlte sich bestätigt. Die En tscheidung damals, den alten Job aufzugeben und nach Lippstadt zu gehen, war richtig gewesen, vor allem für Kim. Aus dem unsicheren, gehänselten und traurigen Grundschulkind, das sie als Mutter selbst vor den Nachbarskindern hatte beschützen müssen, war eine selbstbewusste Dreizehnjährige geworden, die die Ferien in diesem Jahr in Chicago bei ihrem Onkel verbringen würde.
Stolz auf Kim durchflutete Sirona. Ihre Mutter prügelte sich zwar im Abendkleid mit fremden Männern in fremden nächtlichen Parks, aber ansonsten schien sie nicht allzu viel falsch zu machen, jedenfalls nicht, was ihre geliebte Tochter betraf. Alles war eigentlich wie früher, vor Dresden, mit einer kleinen Ausnahme: Ihr Zorn war außer Kontrolle geraten.
Wenn Sirona früher auf jemanden zornig gewesen war, dann hatte sie ihn mit sachlichen Argumenten an die
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