Die Zusammenkunft
verstanden?«
Das Nicken koordinierte er über die Augen, mehr war in diesem Moment nicht drin.
Sie ließ ihn los und in die Ecke kippen, wo er in sich zusammenklappte und nicht wagte aufzublicken, bis sie den Raum verlassen hatte. Die Kollegen standen erstarrt an ihren Schreibtischen, keiner der Männer hatte es g ewagt, ihm zur Hilfe zu kommen, nicht einer.
Auf der Toilette schwappte sie sich am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht und besah sich im Spiegel.
Mein Gott, war sie wahnsinnig geworden? Das hätte man mit einem Verfahren wegen sexueller Nötigung und Erpressung viel eleganter regeln können. Ihre Augen waren nur noch Schlitze. Sie hatte das Gefühl, nur mit Mühe und Not das Raubtier in sich bändigen zu können. Sie spürte die Anspannung in ihren Armen. Ihr Magen zog sich zusammen, verkrampfte, sie musste würgen. Speichel lief ihr aus dem Mund, als sie sich über das Waschbecken beugte. Sie sah, wie die Flüssigkeit langsam im Abfluss versickerte.
Was war nur mit ihr los? Das war doch nicht sie, die diese Dinge tat, oder? Erst diesen Hünen in Dresden a ngreifen, jetzt Rüdiger. Und dann dieses Herzrasen, die Übelkeit! Das war doch genauso wie in Dresden!
Noch während sie sich im Spiegel anstarrte und ve rzweifelt nach einer Antwort auf ihre Fragen suchte, beruhigten sich ebenso abrupt wie beim ersten Mal Herzfrequenz und Puls wieder und nach zwei Minuten ging sie zurück zu ihrem Arbeitsplatz und nahm die Arbeit wieder auf.
Bis zu dem Moment, als Lora ihre Jacke anzog, wurde nicht ein Wort gesprochen. Als Lora dann aber auf die Bürotür zuging, drehte sie sich doch noch einmal um und flüsterte: »Danke!«
Sirona schaute auf: »Das nächste Mal kommst du direkt zu mir, du bist eine meiner Mitarbeiterinnen und damit tabu für alle anderen. Ich sorge mich um meine Mitarbeiter, denn sie sind mir wichtig. Du brauchst dich also nicht bei mir zu bedanken, alles ist gut.« Dann wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu und hörte nur das leichte Klappern der Bürotür, die hinter Lora ins Schloss fiel.
Eigentlich hatte Sirona sich darauf eingestellt, dass der tätliche Übergriff eine Reaktion nach sich ziehen würde, aber niemand sprach sie darauf an. Lora fand schnell wi eder zu ihrer Unbekümmertheit zurück und Rüdiger machte um sie und ihre Abteilung einen großen Bogen.
Nur Robert konnte sich einen Spruch nicht verkneifen. »Na, Sirona, hast du mal wieder die Kampfsau rausgelassen? Mensch, bin ich froh, dass du mich als Freund bezeichnest! Aber irgendwie cool. Worum ging es eigentlich?«
Sirona sah ihn an und schwieg. Sie fand die ganze Aktion alles andere als cool. Nie zuvor hatte sie einem Mann in die Hoden gegriffen oder ihn überhaupt geschlagen oder böswillig angefasst … Sie hielt inne. Doch, dem Typen in Dresden, dem hatte sie sogar die Nase gebrochen. Sie murmelte eine unverständliche Antwort, ohne sich zu verabschieden.
Im Auto atmete sie tief durch. Sie fand ihre Reaktion beunruhigend, nicht cool, sie fand sie scheiße! Da war sie wieder, diese beklemmende Angst! Sie kam nicht weit, ihre Brust brannte wie wild, als sie nach ein paar Kilom etern in ein nahe der Straße gelegenes Wäldchen einbog.
Sie hielt ihren schwarzen Volvo C 70 an und stieg aus. Dann lief sie in den Wald, ohne einen Weg zu erkennen, und blieb irgendwann atemlos an einem Baum stehen und lehnte sich erschöpft an ihn. Hier konnte sie niemand sehen, hier konnte sie sich gehen lassen. Sie rutschte an der rauen Rinde herab und ließ den Kopf nach vorne fa llen, während sie versuchte, sich in einen Zustand der Gefühllosigkeit zu versetzen, was ihr nur bedingt gelang.
Sie war völlig durcheinander, und das war ein Zustand, den sie gar nicht mochte. Immer hatte sie gewusst, wie es weiter ging, immer war ihr oberstes Ziel gewesen, die Familie über Wasser zu halten. Selbstdisziplin und Selbstkontrolle waren sozusagen ihre zweiten Vornamen. Wellen der Übelkeit durchliefen Sirona, als sich die Sz enen in Dresden und im Büro vor ihrem inneren Auge wiederholten.
Angst schnürte ihr den Hals zu. »Nein … ich will das nicht!«, schluchzte sie.
Von einem Moment auf den anderen beruhigte sich ihr Puls wieder, als wäre er fremdgesteuert. Das machte ihr die meiste Angst. Sie hatte immer alles im Griff gehabt, immer, selbst in den schlimmsten Situationen hatte sie ihre Gefühle stets beherrscht. Und jetzt? Sie hatte die Kontrolle verloren, sie merkte, wie sich etwas in ihr veränderte, wie ihre Seele immer
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