Die Zusammenkunft
öfter von Wut und Aggressionen heimgesucht wurde, als wenn da etwas in ihr schlummerte, das sie mit aller Kraft zurückhalten und nicht freilassen durfte.
Sie schluchzte . Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie wirklich Angst. Nicht um Kim oder Omma, nicht um Menschen, die Schutz und Hilfe bei ihr suchten, nein, sondern um sich selbst und ihren Verstand. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so geweint hatte. Sie wusste nur, dass sie keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte.
Es kam Sirona wie eine Ewigkeit vor, bis sie sich wi eder beruhigt hatte. Schließlich stand sie auf. Zu Hause würde man auf sie warten. Sie ging zum Auto zurück, rief über die Freisprechanlage noch bei Omma an, dass es etwas später werden würde. Dann startete sie den Wagen, rollte auf die Straße zurück und fuhr über lange Umwege heim.
Als sie zu Hause ankam, ging sie direkt in den Garten und setzte die Sonnenbrille erst gar nicht ab. Sie drückte Kim, die noch mit Freunden in die Stadt gehen wollte. Omma saß auf der Terrasse und spielte mit der Nachbarin Karten.
Sirona fühlte sich erschöpft, zog ihre Liege mitten auf die Wiese, an eine Stelle, wo der Abstand zur Familie am größten war. Sie holte sich etwas zu trinken, ihre beiden großen Kissen und rein vorsorglich eine Decke, dann igelte sie sich ein und wusste, dass niemand sie in dieser Haltung ansprechen würde. Sie wussten vielleicht nicht genau, was nun in ihr vorging, aber sie hatten längst begriffen, dass sie gestärkt sein würde, wenn sie sich wieder erhob.
Sirona ließ ihre Gedanken fließen und tauchte in ihre Vergangenheit ein, in ihre wilden Jahre in Berlin in den Neunzigern, in die Zeit mit Karsten. Für seine Mutter war sie lediglich das Flittchen gewesen, ihre wilden Partys mit den Exzessen waren kein Geheimnis, und auch, wenn Karsten nicht von Liebe sprach und sie ihn auch nie geliebt hatte, so war er doch in ihrer Nähe geblieben wie ein schützender Schatten. Selbst nach jener Nacht, als eine fremde Männerstimme ihren Anruf auf seinem Handy beantwortete und ihr mitteilte, dass er gestorben sei. Nie würde sie vergessen, wie er ihr im Spiegel ihres Bades erschienen war, in seinem Smoking, als wolle er sie trösten über die Leere, die sein Tod gerissen hatte. »Ach, Karsten, den Smoking kannst du doch nicht anziehen, in dem habe ich dich doch beerdigt«, hatte sie gesagt und ihn danach nie wiedergesehen. Karstens Tod hatte sie ungewöhnlich heftig aus der Bahn geworfen und das Thema Tod mitten in ihr Leben.
An einem dieser Tage hatte sie verzweifelt nach einem Strohhalm gesucht, um sich daran festzuhalten, und hatte eine Kirche betreten wollen. Sie hasste Kirchen und glaubte eigentlich auch nicht an Gott, und als sie die Ki rche verschlossen vorfand, fühlte sie sich in ihrer Ablehnung bestätigt. Dennoch ließ die Sehnsucht nach einer spirituellen Antwort auf ihre Fragen sie nicht los. Sie ging über die Straße und betrat einen kleinen Buchladen. Eine Verkäuferin bot ihre Hilfe an.
»Ich möchte etwas über den Tod erfahren«, sagte Sir ona.
Die Dame griff hinter sich ins Regal und holte ein Buch über das Sterben aus dem Regal. Sirona setzte sich auf ein Sofa und legte das Buch erst wieder aus der Hand, als sie es durchgelesen hatte.
Die Autorin hatte es geschafft, alle Gefühle, die Sirona immer schon in sich getragen hatte, aber niemals hätte artikulieren können, auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Sie hatte irgendwie schon immer geahnt, dass sie von einer großen Macht abstammte, die man im Volksmund ›Seele‹ nannte. Sie wusste, dass der Körper nur eine materialisierte Hülle und vergänglich war, dass eine Seele irgendwann wieder in einen neuen Körper schlüpfte. Jedes Leben, jeder Körper hatte den einzigen Sinn, eine Seele zu beherbergen, damit sie wachsen und lernen konnte. Ob gute oder schlechte Seele, nachdem der Körper gestorben war, gingen sie alle denselben Weg zurück in die große Seele, um diese mit ihrem erworbenen Wissen zu bereichern. Nichts an Erfahrungen und Erlebtem ging je verloren, nichts war umsonst, nichts wurde bewertet. Das erklärte ihr, warum es Menschen gab, die Kontakt zu anderen Seelen aufnehmen konnten, warum sie sich oft in Situationen wiederfand, die ihr bekannt vorkamen. Es gab reife und weniger reife Seelen, und nur die reifen Seelen waren in der Lage, tief in andere Seelen zu schauen und ihnen Lebenshilfe zu geben. Nur die ganz reifen Seelen konnten Dinge erkennen und
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