Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Worten von Kapitän Philipp Lahm zum Ausdruck kam: »Wir haben nicht erreicht, was wir wollten, dafür können wir uns nicht feiern lassen.« Aber vielleicht haben sie die Stimmung in Deutschland unterschätzt, wo die Mehrheit nicht unbedingt den WM -Titel erwartet hatte und den dritten Platz nach überzeugenden und begeisternden Vorstellungen als großen Erfolg betrachtete. Die Leute wollten feiern, aber die Nationalspieler verschwanden nach einem kurzen Pressegespräch direkt in den Urlaub und ließen Hunderte von Fans einfach am Flughafen stehen. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass so viele kommen würden, und ich verstehe gut, dass die Anhänger enttäuscht waren. Aber man kann auch Fußballprofis nicht zu etwas zwingen, was sie nicht wollen.
Manch einer hatte ja vorher geglaubt, ohne Michael Ballack wäre unsere Mannschaft in Südafrika zum frühen Scheitern verurteilt, nachdem sich der Kapitän vier Wochen vor dem WM -Start so schwer verletzt hatte, dass er fürs Turnier ausfiel – was sogar eine Sondersendung der »Tagesschau« zur Folge hatte. Auch ich glaubte, nach dem Ausfall von Ballack werde die Mannschaft es schwer haben. Ich erinnerte mich an das entscheidende Qualifikationsspiel in Moskau, als er nach dem Platzverweis für Jérôme Boateng seinen unbändigen Siegeswillen und seine Leidenschaft einbrachte, um gegen die russische Überzahl zu bestehen.
Ich bin heute noch überzeugt, ohne Michael Ballack hätten wir an jenem 10. Oktober 2009 den 1:0-Vorsprung nicht über die Zeit gebracht. Als ich hinterher in die Kabine kam, saß Michael Ballack da, seinen Fuß in einem Rieseneimer voller Eiswürfel, und als er ihn herauszog, erschrak ich – der Fuß war dick und blau, unfassbar, wie er mit dieser Verletzung 90 Minuten hatte durchspielen können. Vielleicht hat doch etwas von dieser Mentalität gefehlt, als unsere Mannschaft bei der EM 2012 im Halbfinale gegen Italien gescheitert ist.
Aber Michael Ballack war im Kreis der Nationalmannschaft zu diesem Zeitpunkt, im Herbst2009 , schon nicht mehr unumstritten. Eineinhalb Jahre zuvor, bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz, als er für die Öffentlichkeit die eindeutige Galionsfigur des deutschen Teams war, hatte es bereits Reibungen zwischen ihm und den jungen Spielern gegeben. Ballack ist ein hundertprozentiger »Männerfußballer«, er glaubt daran, dass eine Mannschaft eine klare Hierarchie braucht und dass er selbst der geeignete Mann ist, um das Team zu führen.
Joachim Löw setzte zu jener Zeit schon mehr auf eine flachere Hierarchie. Er war überzeugt, dass jeder einzelne seiner Spieler genug Qualität hatte, um Verantwortung zu übernehmen. Außerdem nervte es Ballack offensichtlich, dass Manager Oliver Bierhoff im Angesicht der großen Popularität der Mannschaft den Fußball breiter aufstellen wollte und von den Spielern die Teilnahme an entsprechenden Aktivitäten verlangte.
Nach der Endspiel-Niederlage in Wien 2008 eskalierte die Situation noch auf dem Platz in einem heftigen Streit zwischen Bierhoff und Ballack, bei dem auch deftige Worte gefallen sind. Der Kapitän war enttäuscht und frustriert, dass er wieder einmal bei dem Versuch gescheitert war, einen großen Titel zu erringen, und betrachtete Bierhoffs Aufforderung, mit einem Transparent in die Fankurve zu gehen, um sich für die Unterstützung zu bedanken, in dieser Situation als Zumutung.
Ballack lebt sehr stark im Augenblick, Bierhoff denkt selbst in schwierigen Momenten schon an das nächste Event. Diese unterschiedlichen Charaktere müssen sich reiben; kein Wunder, dass die beiden keine Freunde sind.
Weil nicht nur die Journalisten, sondern auch Millionen Fernsehzuschauer mitbekamen, wie Bierhoff und Ballack sich anbrüllten, beschäftigte uns das Thema noch viele Monate. Ich erinnere mich, dass ich sogar bei einem Besuch der Olympischen Spiele in Peking einen Anruf von Ballack bekam, in dem er sich bitter über ein Interview beschwerte, das Bierhoff gegeben hatte. Ich saß gerade beim Mittagessen und hatte meine liebe Mühe, den aufgeregten Kapitän zu beruhigen. Natürlich gab auch Ballack bald darauf ein Interview, in dem er wiederum Spitzen gegen Bierhoff losließ.
Aber mir war klar, dass die Streithähne sich zusammenraufen mussten, wenn wir eine erfolgreiche WM -Qualifikation spielen wollten. Also bat ich nach meiner Rückkehr aus China Bundestrainer Löw und Michael Ballack in mein Amtszimmer und ließ die beiden allein, damit sie sich
Weitere Kostenlose Bücher