Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
verließen.
»Wären Sie meiner Mutter begegnet, als sie das Alter von Alice hatte, hätten Sie die glücklichste Frau der Welt kennengelernt. Meine Mutter ist eine gute Schauspielerin, sie hat ihre Berufung verfehlt. Auf der Bühne hätte sie einen Riesenerfolg gehabt. Aber samstags war sie aufrichtig. Ja, ich glaube, samstags war sie wirklich glücklich.«
»Warum samstags?«, wollte Can wissen und setzte sich auf eine Bank.
»Weil mein Vater sie dann beachtete«, antwortete Daldry und nahm neben ihm Platz. »Aber ziehen Sie daraus keine falschen Schlüsse, er war nur in Hinblick auf seinen montäglichen Aufbruch ihr gegenüber aufmerksam. Um sich sozusagen im Voraus seine Untat verzeihen zu lassen, heuchelte er Interesse für sie.«
»Welche Untat?«
»Darauf kommen wir später. Sie werden mich fragen, warum eher am Samstag als am Sonntag, was doch logischer gewesen wäre? Nun ja, das war wohl so, weil meine Mutter samstags noch genügend abgelenkt war, um nicht an seinen Aufbruch zu denken. Während sich nach dem Verlassen der sonntäglichen Messe ihr Herz mit jeder Stunde, die verging, mehr zusammenzog. Der Sonntagabend war grauenvoll. Wenn ich bedenke, dass er die Dreistigkeit besaß, mit ihr in die Messe zu gehen.«
»Aber was tat er denn montags so Schwerwiegendes?«
»Nach seiner Morgentoilette zog er seinen schönsten Anzug an, schlüpfte in seine Weste, band sich seine Fliege um, polierte seine Taschenuhr, kämmte sich, parfümierte sich und ließ anspannen, um in die Stadt zu fahren. Dort traf er sich jeden Montagnachmittag mit seinem Geschäftspartner. Er übernachtete in der Stadt, da die Straßen angeblich nachts gefährlich waren, und kehrte erst im Laufe des folgenden Tages zurück.«
»Und in Wirklichkeit traf er seine Geliebte, war es das?«
»Nein, er traf tatsächlich seinen Syndikusanwalt, mit dem er seit der Schulzeit befreundet war, und sie verbrachten die Nacht zusammen. Nun, ich denke, das kommt aufs Gleiche hinaus.«
»Und Ihre Mutter wusste das?«
»Dass ihr Mann sie mit einem Mann betrog? Ja, das wusste sie, der Kutscher wusste es, die Dienstmädchen wussten es, die Köchin, die Kinderfrau, der Butler, alle wussten es außer mir, der lange Zeit dachte, er habe einfach eine Geliebte. Ich bin von Natur aus etwas einfältig.«
»Zur Zeit der Sultane …«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen, und es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber in England haben wir einen König und eine Königin, einen Palast und keinen Harem. Betrachten Sie das nicht als Verurteilung meinerseits, es ist lediglich eine Frage der Konventionen. Im Übrigen, um Ihnen alles zu erzählen, waren mir die Schandtaten meines Vaters ziemlich gleichgültig, was ich nicht ertrug, war das Leid meiner Mutter. Denn darüber täuschte ich mich nicht. Mein Vater war nicht der einzige Mann im Königreich, der in fremden Betten lag, aber es war meine Mutter, die er betrog, und ihre Liebe, die er beschmutzte. Als ich eines Tages den Mut fand, mit ihr darüber zu sprechen, lächelte sie mich, den Tränen nahe, an mit einer Würde, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mir gegenüber hat sie meinen Vater verteidigt, hat mir erklärt, es sei der Lauf der Dinge, eine Notwendigkeit für ihn, und sie sei ihm deshalb nie böse gewesen. Doch an diesem Tag spielte sie ihre Rolle ausgesprochen schlecht.«
»Aber wenn Sie Ihren Vater für alles, was er Ihrer Mutter angetan hat, verabscheuen, warum würden Sie es dann ebenso machen wie er?«
»Weil ich, als ich meine Mutter leiden sah, verstanden habe, dass lieben für einen Mann bedeutet, eine schöne Frau in ein Gewächshaus zu setzen, damit sie sich dort sicher fühlt, und sie zu lieben … bis ihre Schönheit verblasst, und dann aufzubrechen, um neue Herzen zu pflücken. Ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, dass ich, falls ich eines Tages lieben sollte, aufrichtig lieben würde, die Blume schützen und es mir verbieten würde, sie in ein Gewächshaus zu setzen. So, mein Guter, mithilfe des Alkohols habe ich Ihnen viel zu viel erzählt und werde es morgen sicherlich bereuen. Aber wenn Sie auch nur ein einziges Wort von dem, was ich Ihnen anvertraut habe, weitererzählen, werde ich Sie eigenhändig in Ihrem großen Bosporus ertränken. Die wirklich wichtige Frage, die sich nun stellt, ist, wie wir ins Hotel zurückkommen, denn ich bin nicht in der Lage aufzustehen. Ich fürchte, ich habe etwas zu viel Alkohol intus!«
Can befand sich in keinem besseren Zustand
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