Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Vater hieß Pendelbury«, antwortete Alice und warf Daldry einen betrübten Blick zu.
»Pendelbury? Ich glaube nicht, dass er mir das gesagt hat … Vielleicht ist mein Gedächtnis aber auch einfach nicht mehr das, was es einmal war«, erwiderte der Mann.
Daldry sah Alice an und fragte sich wie sie, ob ihr Gastgeber wirklich bei Verstand sei. Und schon war er böse auf Can, weil er sie hierhergebracht hatte, und noch mehr, weil er in Alice die Hoffnung geweckt hatte, etwas mehr über ihre Eltern zu erfahren.
»Hier im Viertel«, fuhr Zemirli fort, »nannte man ihn nicht Pendelbury, schon gar nicht zu dieser Zeit. Wir hatten ihm den Namen Cömert Eczaci gegeben.«
»Das bedeutet ›der großzügige Apotheker‹«, übersetzte Can.
Bei diesen Worten spürte Alice, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
»War das Ihr Vater?«, fragte der Mann.
»Das ist sehr wahrscheinlich, denn beides trifft auf ihn zu.«
»Ich erinnere mich gut an ihn, auch an Ihre Mutter, eine Frau mit Charakter. Sie arbeiteten gemeinsam an der Universität. Folgen Sie mir«, sagte Zemirli, während er sich mühsam aus seinem Sessel erhob.
Er ging ans Fenster und deutete auf die Wohnung, die sich im gegenüberliegenden Haus im ersten Stockwerk befand. Alice las die Inschrift »Rumeli Palas« auf dem Schild über der Passage.
»Im Konsulat hat man mir gesagt, dass meine Eltern im zweiten Stock wohnten.«
»Und ich sage Ihnen, dass sie dort wohnten«, beharrte Zemirli und deutete auf die Fenster im ersten Stock. »Sie können natürlich Ihrem Konsulat glauben, aber immerhin war es meine Tante, die ihnen diese kleine Wohnung vermietet hatte. Sehen Sie, dort links, das war ihr Salon, und das andere Fenster gehörte zu ihrem Schlafzimmer, die kleine Küche ging zum Hof wie bei diesem Haus auch. Kommen Sie, setzen wir uns wieder, mein Bein schmerzt. Übrigens habe ich deswegen Ihre Eltern kennengelernt. Ich werde Ihnen alles erzählen. Ich war jung, und mein Lieblingsspiel auf dem Heimweg vom Gymnasium war, wie von vielen anderen Burschen auch, schwarz mit der Straßenbahn zu fahren …«
Dazu sprangen die jungen Istanbuler auf die fahrende Tram und setzten sich rittlings auf den großen Rückscheinwerfer der Bahn. An einem Regentag hatte Ogüz jedoch das Ziel verfehlt, wurde vom Drehgestell der Straßenbahn erfasst und mehrere Meter mitgeschleift. Die Chirurgen operierten ihn, so gut es ging, und ersparten ihm gerade noch eine Amputation. Ogüz wurde vom Militärdienst befreit, es gab seither jedoch keinen Regentag mehr, an dem er nicht Schmerzen in diesem Bein hatte.
»Die Medikamente waren teuer«, erklärte Zemirli, »viel zu teuer, um sie in der Apotheke kaufen zu können. Ihr Vater brachte welche aus dem Krankenhaus mit und versorgte mich und alle anderen Bedürftigen im Viertel damit. In Kriegszeiten bedeutete dies, dass er vielen Bewohnern hier half, die krank wurden. Ihre Eltern führten in der kleinen Wohnung eine Art Geheimambulanz. Sobald sie aus der Universitätsklinik zurückkamen, behandelte Ihre Mutter die Kranken und legte Verbände an, während Ihr Vater die Medikamente verteilte, die er hatte auftreiben können, und die Heilmittel, die er selbst zubereitete. Im Winter, wenn die Kinder vom Fieber heimgesucht wurden, sah man Mütter und Großmütter in langer Schlange vor ihrer Tür anstehen. Den Behörden entging das nicht, aber da es sich um eine ehrenamtliche Sache handelte, die der Gesundheit der Bevölkerung diente, drückte die Polizei ein Auge zu. Auch sie hatten Kinder, die sich in der kleinen Wohnung behandeln ließen. Ich habe keinen einzigen Uniformträger gekannt, der das Risiko auf sich genommen hätte, seiner Frau beim Heimkommen berichten zu müssen, er habe Ihre Eltern verhaftet, und aufgrund meines ungestümen jugendlichen Temperaments kannte ich sie damals alle. Ihre Eltern sind beinahe zwei Jahre geblieben, daran erinnere ich mich gut. Und dann hat Ihr Vater eines Abends mehr Medikamente als sonst verteilt, jeder bekam das Doppelte der üblichen Menge. Am nächsten Tag waren sie nicht mehr da. Meine Tante hat über zwei Monate gewartet, bis sie es wagte, mit ihrem Schlüssel aufzusperren und nachzusehen. Die Wohnung war tadellos aufgeräumt, es fehlte nicht ein Teller, nicht ein Besteck. Auf dem Küchentisch fand sie das Geld für die Miete und einen Brief, in dem Ihre Eltern erklärten, sie seien zurück nach England gereist. Diese wenigen handschriftlichen Worte Ihres Vaters waren für alle Bewohner eine
Weitere Kostenlose Bücher