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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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kam, war es mit einem Mal wieder einfach ein Sonntagmorgen, in meiner ganz normalen Wohnung unter dem ganz normalen Asphalthimmel, mit meiner Mutter in der Küche, die etwas zu meinem Vater hinüberzwitscherte, der wiederum wie versunken in seinem Wohnzimmersessel saß.
    Der Tag schien nie enden zu wollen. Beim Mittagessen schlich sich in die Plaudereien meiner Mutter fast zufällig ein Kommentar darüber ein, dass ich heute weniger kränklich als sonst aussah: Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sie so etwas sagen hörte. Mein Vater nickte und beschränkte sich auf seine übliche, schweigende Musterung.
    Am Nachmittag versuchte ich vergeblich, mich aufs Lernen zu konzentrieren. Irene schickte mir eine SMS und wir trafen uns auf MSN , wo ich ihr eine komplette Zusammenfassung des Abends lieferte, Kuss eingeschlossen. Sie freute sich so für mich, dass sie den ganzen Bildschirm mit Smileys füllte.
    Den Abend mit Ivan noch mal durchzugehen, hatte auch meiner Laune gutgetan. Schließlich war alles wunderbar gelaufen; wir hatten praktisch nichts anderes gemacht als zu reden, aber es war … wirklich besonders. Einmalig.
    Und am Mittwoch würde ich ihn wiedersehen.
    An seine überstürzte Flucht nach dem Kuss dachte ich kaum. Sicher hatte er sich schuldig gefühlt und war bei dem Gedanken erschrocken, dass er mich unbewusst zu sehr bedrängt haben könnte. Beim nächsten Mal, versprach ich mir selbst, würde ich dafür sorgen, dass ihm keine Zweifel kämen. Schon allein bei dem Gedanken begannen meine Wangen zu glühen.
    Aber gegen Abend wurde ich wieder nervös. Nach meinem Chat mit Irene hatte ich nach »Green Dragon« im Internet gesucht. Giada hatte die Wahrheit gesagt: Es handelt sich um einen Aufguss auf Cannabis-Basis, den man problemlos zu Hause zusammenmixen kann und der sich gut mit Alkohol vermischen lässt. Anfangs führt das Zeug zu Euphorie, übertriebener Selbstsicherheit, Herabsetzung der Hemmschwellen, und anschließend zu Desorientiertheit, Unfähigkeit, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, und zum Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.
    Ich spürte, wie die Wut von Neuem in mir hochkochte. Was ich mit Giada gemacht hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was ich mit den drei anderen anstellen würde. Ich musste nur gut vorbereitet, gut organisiert sein und mich nicht wie gestern Abend von einem spontanen Impuls leiten lassen.
    Das hieß auch diesmal, im Verborgenen zu agieren und die Gedanken und Erlebnisse mit niemandem teilen zu können. Ich ging zum Fenster und sah hinaus auf die grauen Wolken: Ich hatte die Geheimniskrämerei so satt, ich hatte es so satt, niemanden einweihen zu können in die Welt, in die ich katapultiert worden war. Niemanden, außer den Conte.
    Ich bekam Lust, ihn zu sehen, seine allzeit ruhige Stimme zu hören und die Luft in seiner Wohnung zu atmen, die nach Tabak und Tee duftete. Wenn ich bei ihm war, fühlte ich mich in Frieden mit der Welt und in der Lage, jede neue Teufelei zu überstehen, die das Schicksal für mich vorgesehen hatte. Das erinnerte mich an etwas, das ich schon seit Tagen tun wollte: Im Internet nach Informationen über seine Familie suchen.
    Ich musste feststellen, dass online nicht viel vorhanden war, konnte aber zumindest herausfinden, dass die Familie der Grafen Gorani in Mailand tatsächlich existiert hatte. Im achtzehnten Jahrhundert hatte es einen berühmten Namensvetter meines Conte gegeben, ein gewisser Giuseppe Gorani, der Soldat, Schriftsteller und ein politischer Verfechter der Aufklärung gewesen war. Eine Art Abenteurer, der an den Höfen halb Europas unterwegs war, oft als Spion im Sold irgendeiner Regierung: Kaum zwanzigjährig hatte er auf der Seite der Habsburger gegen Preußen gekämpft, war während der Schlacht zweimal in Gefangenschaft geraten und beide Male entkommen. Er hatte private Geheimnisse von Königen, Königinnen und Fürsten gekannt, und das alles gegen Ende seines Lebens in einem dicken Erinnerungsbuch gesammelt, das nie vollständig veröffentlicht worden war, weil es zu viele heikle Enthüllungen enthielt. Ich musste unwillkürlich lächeln: Man hatte meinem Freund ausgerechnet den Namen des exzentrischsten und faszinierendsten seiner Vorfahren gegeben.
    Ich beschloss, ihn zu besuchen, und zwar zum ersten Mal nicht, um ihm Fragen zu stellen. Ich hatte einfach nur Lust, eine Weile mit jemandem zusammen zu sein, der … na ja, der wusste, was ich durchmachte.
    Kurz vor Mitternacht nahm ich den Weg durchs Fenster,

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