Die zwei Monde: Roman (German Edition)
gekommen waren wie wir.
»Warum sind wir hier?«, fragte ich nervös.
Der Conte sah mich an. »Weil du, Veronica, etwas über mich erfahren möchtest. Und da ich bei unseren Begegnungen der letzten Tage schon viel über dich erfahren habe, finde ich es nur richtig, deinem Wunsch zu entsprechen.« Er nickte zur Mauer hin. »Bist du in der Lage, sie zu überwinden?«
Ich nickte.
»Dann tu es.«
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, aber da er nichts mehr hinzufügte, zuckte ich die Schultern und sprang hinüber. Es war keine hohe Mauer.
Ich fand mich auf einem verlassenen Parkplatz wieder. Und an dieser Stelle fiel mir wieder ein, dass der Conte am Tag unserer ersten Begegnung schon davon gesprochen hatte: Aus dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Palast war ein Parkplatz geworden.
»Traurig, nicht wahr?«, war die Stimme des Conte zu hören.
Ich zuckte zusammen und drehte mich um: Er stand hinter mir, eingehüllt in seine Aura aus knisternder Düsternis. Von wo war er nur gekommen? In der Mauer gab es keine Türen.
Er streckte mir die Hand hin. »Was du jetzt gleich sehen wirst, hat noch niemand zuvor gesehen, es sei denn, er hat es selbst erlebt. Nimm meine Hand und halt sie ganz fest.«
Nach kurzem Zögern streckte ich die Hand aus und drückte die seine. Dabei kam ich mir vor wie ein kleines Mädchen, das vertrauensvoll die Hand eines Erwachsenen ergreift.
Der Conte blickte geradeaus in Richtung Turm. »Geh mit mir, Veronica von den Wölfen. Geh mit mir durch die Schleier der Welt.«
Er machte einen Schritt nach vorn, und ich folgte ihm, und alles, was ich vor Augen hatte, zerfiel.
Kapitel 21
Sonntag, 22. Februar
E s war ein höchst seltsames Gefühl, eine Art Schwindel, der aber nicht vom Kopf oder Magen, sondern von außen , durch die Haut hindurch zu kommen schien. Das diffuse Licht der Nacht wurde von einem explosionsartigen Sonnenaufgang hinweggefegt, und mit einem Mal war es heller Tag: Vor uns befand sich kein Parkplatz mehr, und auch kein eingerüsteter Turm, sondern ein mächtiger alter Palazzo.
Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, keine sechs Meter von mir entfernt. Quadratisch und massiv, vier Stockwerke hoch, von einem kompakten Grau, das an Asche erinnerte. In jedem Stockwerk gab es riesige Bogenfenster, umrahmt von Blendsäulen mit barocken Verzierungen. In einer Ecke erhob sich der Turm, er war kaum höher als das Dach und wieder so intakt, wie er jahrhundertelang gewesen war. Dem Erdgeschoss war eine Säulenhalle vorgelagert, aus der menschliche Stimmen zu hören waren, Pferdegewieher und ein Klingeln wie von Metall. Auch die Luft hatte sich verändert: Sie war feiner und gleichzeitig dichter geworden, von vielen Gerüchen erfüllt, aber es roch nicht mehr nach Smog und Teer, sondern nach Staub, Holz, Schweiß, Heu und der Anwesenheit von sehr vielen Tieren.
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich den Conte an, unfähig, auch nur die einfachste Frage zu artikulieren. Wie viele Wunder ich in den letzten Tagen auch gesehen haben mochte, es gelang mir einfach nicht, mich daran zu gewöhnen.
»Der Palazzo Gorani«, murmelte er gedankenverloren, ohne mich anzusehen. »Im Frühjahr des Jahres 1740.«
Er lenkte seine Schritte in Richtung Säulenhalle, und ich folgte ihm, immer noch offenen Mundes und darauf bedacht, seine Hand nicht loszulassen. Während wir den Säulengang durchquerten, sah ich zu meiner Rechten eine in Gold und Scharlach bemalte Kutsche mit blutroten Vorhängen, vor die ein Mann gerade zwei Pferde spannte, die mit ihren Hufen träge auf dem Pflaster scharrten. Mir blieb jedoch keine Zeit für längere Betrachtungen, denn der Conte trat entschlossen durch das weit offen stehende Eingangstor. Er führte mich durch eine Vorhalle mit einem bis ins letzte Detail bemalten Deckengewölbe in schwindelerregender Höhe.
Leider bekam ich auch diesmal keine Gelegenheit, mich umzuschauen, denn einen Moment später stiegen wir schon eine große Freitreppe mit Marmorgeländer hinauf, die so breit war, dass fünf oder sechs Personen nebeneinander Platz gehabt hätten. Ein Diener, der aus dem ersten Stock kam, lief eilig an uns vorbei: Ich nahm gerade mal das Flattern der blauweißen Spitzen auf seiner Livree wahr.
Am Ende der Treppe lag ein Korridor mit vielen Türen. Ohne Zögern ging der Conte auf eine von ihnen zu und legte die Hand auf den Löwenkopf aus glänzendem Messing. Er zögerte einen Moment, dann drückte er die Klinke herunter, und wir traten ein.
Das Zimmer war
Weitere Kostenlose Bücher