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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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im Gegenteil. Aber ich blieb weiterhin wachsam: Nach ein paar Minuten gesellte sich zu den ersten beiden ein Dritter, und dann ein Vierter und ein Fünfter. Innerhalb kürzester Zeit hefteten sich uns mehr als ein halbes Dutzend schwarzer Silhouetten an die Fersen, aber der Conte schien nicht im Mindesten besorgt.
    »Hast du dich je gefragt, Veronica, aus welchem Grund das Symbol dieser Stadt eine Schlange ist, die einen Menschen verschlingt?«
    Mit einer solchen Frage hätte ich zuallerletzt gerechnet. »Nein, hab ich nicht.«
    »Der Legende nach wurden die Sümpfe jenseits der Stadtmauern im frühen Mittelalter von einem Drachen heimgesucht.« Er warf mir einen Blick zu, wie um meine Reaktion zu prüfen, aber ich sagte nichts. »Seine bloße Anwesenheit vergiftete die ganze Gegend, wie der Blick eines Basilisken: das Wasser, die Erde und selbst die Luft. Seine Höhle lag unmittelbar hinter den Mauern, und die Leute konnten seine Nachbarschaft nicht länger tolerieren. Innerhalb kürzester Zeit wären alle vergiftet worden oder geflüchtet. Schließlich versuchte sich Uberto Visconti, der Gründer seines Geschlechts, als Drachentöter und zog gegen das Monster zu Felde, bewaffnet, wie es Tradition war, nur mit seinem Speer und seinem Glauben. Kannst du erraten, wie es ausging?«
    Ich nickte. »Er hat den Drachen getötet. Das machen Helden ja immer.«
    »Und er setzte dessen Bild in das eigene Wappen, was ebenfalls eine alte Gewohnheit von Helden ist.«
    Ich nahm mir einen Augenblick, um zu überlegen. Musste ich zu den Geistern, den Strigen und den Werwölfen auch noch die Drachen hinzufügen? Nein, so einfach war es natürlich nicht. Inzwischen hatte ich verstanden, dass dies nicht der Sinn der Geschichten war, die der Conte erzählte.
    »Was hat diese Sage zu bedeuten?«
    Der Conte lächelte. »Den Wissenschaftlern zufolge, dass die Gegend um Mailand sumpfig und wenig gesund war, bis der Boden trockengelegt wurde und die Stadt sich ausbreiten konnte. Der Mensch und sein Werk besiegen die Gefahren der Natur.«
    »Aber da ist noch was, oder?«
    »Ja, da ist noch etwas. Erinnerst du dich daran, dass ich dir erzählte habe, dass unsere Urahnen die Orte für die Errichtung ihrer Städte nicht zufällig wählten?«
    Ich nickte.
    »Der Himmel und die Erde sind lebendig: Eine Vielzahl von Kräften fließt durch sie hindurch und verbindet sie, wie die Adern und die Nerven eines riesigen lebenden Körpers. Und an den Orten, wo diese Linien sich begegnen, bahnt die Macht des Jenseitigen sich einen Weg zur irdischen Welt. Die Kelten, wie alle Völker früherer Zeiten, wussten das: Für sie waren diese Linien, diese unsichtbaren Ströme, die Wirbelsäule des Drachen. Und genau hier siedelte einer ihrer Stämme ihr Waldheiligtum an, ihr Medhelan : weil sich hier die Ströme trafen und der Drache seine Gegenwart manifest machte. Aber es war eine schreckliche Präsenz, eine ursprüngliche Kraft, die beschränkt und befriedet werden musste, wenn die Sterblichen in ihrem Schatten leben wollten. Sie musste in einen Wächter, in einen Beschützer umgewandelt werden. In einen Genius Loci .«
    »Dann haben also die Menschen den Drachen unterworfen.«
    »In erster Linie haben sie ihn gezähmt, mit den Riten und Opfern.«
    Ich dachte an das Mailänder Wappen und an die menschliche Gestalt zwischen den Fängen des Reptils und zog es vor, keine Fragen zu stellen.
    Wir liefen durch ein Gewirr aus engen und schlecht beleuchteten Straßen, in einer Gegend des Zentrums, die sicherlich sehr alt war. An einer Straßenecke blieb der Conte unvermittelt stehen, um mir jenseits der Mauer, die am gegenüberliegenden Gehsteig entlanglief, etwas zu zeigen.
    Dort, wo sein ausgestreckter Finger hinwies, zeichnete sich ein dunkler, breiter Umriss ab, der inmitten einer freien Fläche zu stehen schien, die wegen der Mauer nicht zu sehen war. Es handelte sich um einen Turm, quadratisch und klotzig, und ganz von Gerüsten und Planen umgeben: eine bizarre Rüstung aus Metall und Plastik, die wie alle Baugerüste nicht schön anzusehen war.
    »Was ist das?«, fragte ich leise.
    »Der Torre Gorani. Alles, was noch übrig ist von dem Palast, den meine Familie dreihundert Jahre lang bewohnt hat.«
    Ich betrachtete ihn genauer, meine Augen konnten zwar mühelos das Dunkel durchdringen, jedoch wegen der Gerüste keine Details ausmachen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich die fließenden und lautlosen Bewegungen der Unterirdischen, die jetzt ebenso zum Stillstand

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