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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Revolution war ich nach Frankreich gegangen. Es schien, als würde sich endlich unser Traum erfüllen, und wir alle glaubten daran: das Ende aller Tyrannei, aller Ungerechtigkeiten, aller Irrtümer. Der Sieg der Erkenntnis und der Vernunft. Wir wollten daran glauben, wie wir noch nie an etwas geglaubt hatten.« Ich hörte, wie seine Stimme schneidend wurde, und sah ihn an. Er fixierte den Mann am Tischende, die Augen hart wie Stein. »An jenem Abend nahmen wir Abschied voneinander: Robespierre wollte, dass ich nach Genf ging, um die Übernahme der Stadt durch Frankreich in die Wege zu leiten. Schon am darauffolgenden Morgen würde ich abreisen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn zu Gesicht bekam.«
    Als sich die folgende Tür öffnete, strauchelte ich einen Moment, denn die Woge von Fäulnis, die uns entgegenschlug, war viel schlimmer als der Gestank ein paar Zimmer weiter vorn. Wieder schien der Conte nicht im Mindesten überrascht und wartete, bis ich mich in der Lage fühlte, weiterzugehen. Ich versuchte, mich schnell wieder zu fassen, raffte meinen ganzen Mut zusammen und stellte mich gerade hin: Es stand mir etwas sehr Hässliches bevor, dessen war ich sicher, aber ich wollte dem Conte nicht schon wieder eine Kleine-Mädchen-Szene liefern.
    Auch dieses Zimmer wirkte wie ein niedriger Kellerraum. An den im Halbdunkel liegenden Wänden stapelten sich bis obenhin irgendwelche runden Dinger. Durch eine kleine Fensterluke kurz unter der Decke drangen ferne Schreie und die Geräusche einer sich bewegenden Menschenmenge zu uns herein.
    Der Conte zerrte mich regelrecht hinter sich her und betrat den Raum viel schneller als alle anderen. Ich schwankte zwischen der Neugier, mir die seltsamen Kugelhaufen näher anzusehen, und einem plötzlichen Instinkt, der mich genau davor warnte. Die Neugier siegte und ich sah hin: Es waren Köpfe! Dutzende, Hunderte von abgehackten Köpfen, mit aufgerissenen Augen, offen stehenden Mündern und blutverschmierten Haaren. Es schnürte mir so sehr die Kehle zu, dass ich nicht mal einen Schrei hervorbrachte.
    »Da siehst du sie, die Früchte des Freiheitsbaums, den mein Freund Robespierre mit so viel Sorgfalt herangezogen und dann mit den Klingen der Guillotine beschnitten hat. Dies war der Höhepunkt seiner bescheidenen Herrschaft, seines Terrors, wie die nachfolgenden Generationen es nennen werden. Der Hauch einer Anschuldigung, ein einziges Wort, das in das richtige Ohr geflüstert wurde, und schon rollte ein neuer Kopf in den Korb; die systematische Eliminierung jedes Menschen, der auch nur leise im Verdacht stand, ein Feind des Volkes und der Demokratie zu sein. Elf Monate Herrschaft, dreißigtausend Köpfe. Und der meines Freundes war der letzte, der fiel, unter derselben Klinge.«
    Am anderen Ende des Saals stürzte ich durch die geöffnete Tür und löste mich nur deshalb nicht von der Hand des Conte, weil er die meine fest umklammert hielt. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, beugte mich mit geschlossenen Augen nach vorn und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich hatte noch immer die glasigen Blicke der Toten vor Augen und den Gestank des verwesenden Fleisches in der Nase. Und ich war mir sicher, dass mir dieses über alle Maßen grauenerregende Szenario noch für einige Nächte Gesellschaft leisten würde.
    »Ich setzte später keinen Fuß mehr auf französischen Bo den«, hörte ich den Conte fortfahren, »und meine Mission in Genf erfüllte ich nicht. Ich lebte dort noch einige Jahre, schreibend und meditierend, auf der Suche nach einer Entscheidung, wie es weitergehen sollte. Schließlich ließ ich das Gerücht von meinem eigenen Tod verbreiten. Das war nicht schwer zu jenen Zeiten. Heimlich kehrte ich hierher zurück, nach Mailand, in den Palast meiner Ahnen, und bereitete mich auf das letzte Unterfangen meines Lebens vor. Das schwierigste, das extremste.«
    Er schwieg und wartete, dass ich mich wieder sammelte. Es verging mehr als eine Minute, bis ich die Kraft fand, mich aufzurichten und mich umzusehen, eher vom Wunsch geleitet, mich abzulenken, als interessiert an dem, was es noch zu sehen gab. Wir befanden uns in einem winzigen, sehr düsteren Foyer mit nackten Wänden, nur durch den Türrahmen drang ein wenig Licht. Ich starrte die Tür an: Sie befand sich nicht in einer Zimmerecke, wie alle anderen bisher, sondern mitten in der vor uns liegenden Wand. Ich begriff, dass wir an die Schwelle des letzten Zimmers gelangt waren, ins Zentrum der Spirale, ins Herz

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