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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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des Palazzo Gorani.
    Als hätte er meine Gedanken gelesen, nickte der Conte. »Meine Vorfahren waren kluge Menschen, sie kannten viele Geheimnisse: Als sie den Palast wieder aufbauten, planten sie ihn so, dass er in der Lage wäre, die Kräfte zu sammeln, die die Wirklichkeit durchlaufen. Sie wollten ein Gebäude schaffen, das diese Kräfte leiten, zusammenführen und in einem einzigen Raum konzentrieren würde: in einem verborgenen Kern, einem Raum, in dem Wunder wahr werden würden.«
    In der nachfolgenden Stille spürte ich, dass die Luft vibrierte wie durch elektrischen Strom. Hinter der Tür war eine tiefe, rhythmische Stimme zu hören, die unbekannte Worte psalmodierte. Ich wurde von einer mir unverständlichen Empfindung erfasst, einer Mischung aus Bedrängnis und Vertrautheit, wie wenn man sich von einer Stimme mit Namen gerufen hört, die man kennt, aber seit sehr langer Zeit nicht gehört hat.
    »Ich hatte mein Leben damit verschwendet, unmöglichen Idealen nachzujagen; ich hatte geholfen, den Traum einer besseren Menschheit zu entwerfen, und ich hatte ihn in Blut ertrinken sehen. Es blieb mir nur noch wenig Zeit: Meine Karriere hatte mir Feinde in jedem Land Europas eingebracht, und viele von ihnen waren sehr mächtig. Ich brauchte Zeit, um wieder zu mir zu kommen, um einen neuen Sinn in den Dingen zu finden – aber Zeit war das Einzige, was ich nicht hatte. Daher wandte ich mich an die Macht meiner Heimat, eine Macht, die seit Jahrhunderten geschlafen hatte, aber sehr wohl lebendig war, weil ihr das Verstreichen der Zeit nichts anhaben konnte. Ich wusste nicht, wo sich das Medhelan befand: Niemand weiß das heute mit Sicherheit. Aber ich wusste, dass es mir mit dem richtigen Angebot sicher gelingen würde, meine Stimme hören zu lassen.«
    »Das Opfer ist die Essenz der Macht«, flüsterte ich kaum hörbar, mich unvermittelt an seine Worte erinnernd.
    »Genau. Und ich vollendete mein Opfer, indem ich dafür das Wertvollste gab, das ich besaß.« Der Conte starrte auf die geschlossene Tür. »Im verborgenen Herzen dieses Palazzo vollzog ich das Ritual, sprach die Worte, rief die Kräfte an, die die Erde durchlaufen. Ich weckte den Drachen. Im Tausch für die Zeit, die mir nötig erschien, bot ich ihm den letzten Augenblick meines Lebens. Und ich wurde der, der ohne Tod ist, der Unsterbliche .«
    Wie zur Antwort auf seine Worte begann die Steinwand zu meiner Linken plötzlich zu schwanken, zog sich in sich selbst zusammen und platzte nach innen auf. Im dahinterliegenden Zimmer wurde die hoch aufgerichtete Gestalt eines Unterirdischen sichtbar, der seine Arme nach uns ausstreckte. Für einen Augenblick war ich so überrascht, dass ich es nicht schaffte, auch nur einen Muskel zu bewegen.
    Dann fing auch die rechte Wand an zu zittern, wie eine in Unruhe geratende Wasseroberfläche, und zwei weitere schwarze, bedrohliche Gestalten erschienen auf der Bildfläche. Ich merkte, wie der Conte neben mir zurückwich, übernahm wieder die Kontrolle über mich selbst, breitete die Arme aus und brüllte.
    Kaum hatte ich die Hand des Conte losgelassen, ging alles um mich herum zu Bruch: Die Tür, das Zimmer und der ganze Palast zerfielen in ein buntes Farbspektrum, das sich schnell auflöste und uns im nächsten Augenblick unter dem Sternenhimmel mitten auf dem verlassenen Parkplatz zurückließ.
    Ich fühlte, wie eine unglaubliche Wut in mir hochstieg, ein wildes Toben, das nur zum Teil von mir selbst kam, und ich ließ es kommen. Für einen einzigen Moment war die Welt wie gelähmt, ein eingefrorenes Fotogramm. Als einer der Unterirdischen nach vorn glitt und versuchte, sich zwischen mich und den Conte zu stellen, legte ich los.
    An das, was danach geschah, kann ich mich nur noch undeutlich erinnern: Da sind nur Fetzen von Dunkelheit, schwarze Finger, die wie Säure brennen, und das betäubende Brüllen des Wolfes, das immer lauter wird, bis es alles andere verschlingt. Ich weiß, dass ich um mich schlug, wieder und wieder, die Finger geöffnet wie Klauen, um meine eigene Achse wirbelnd und mich auf alles stürzend, was sich in meinem Umkreis bewegte.
    Das erste klare Bild, das ich habe, ist eins von mir selbst: schwer atmend, ein Knie auf der Erde, umgeben von zerfledderten Schattenfetzen, die gerade dabei waren, zu Staub zu zerfallen. Meine Arme und mein Gesicht waren mit seltsamen, schmerzenden Brandwunden bedeckt, die meine Haut entfärbt statt gerötet hatten, an den Stellen, an denen es den Händen der

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