Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Genaugenommen schien die Mauer weniger aus dem Boden gewachsen, als geradewegs vom Himmel gefallen zu sein – aus einer fernen Epoche in unsere Zeit gestürzt und irrtümlich am modernsten und verkehrsreichsten Platz der Stadt gelandet. Es war das Seltsamste, das ich gesehen hatte, seit ich auf Mailands Straßen unterwegs war.
Ich wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, und überquerte dann die Straße zu dem kleinen Platz. In den vergangenen beiden Tagen hatte ich mich im Internet über diesen Ort informiert, denn sicherlich würde Ivan mir einiges erzählen und … na ja, ich wollte nicht den Eindruck machen, dass ich so gar keine Ahnung hatte. Also wusste ich jetzt, dass es sich um eine frühchristliche Kirche handelte. Die noch immer sichtbaren Mauern waren erst viel später, im neunten Jahrhundert gebaut worden, und die Kirche selbst wurde in den Vierzigerjahren unseres Jahrhunderts zerstört. Die darunterliegende Krypta war der älteste Teil der ganzen Anlage: Sie beherbergte weiter nichts als ein kleines Museum, das normalerweise für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war und nur nach Vereinbarung mit dem Archäologischen Museum besichtigt werden konnte.
Ich hatte auch versucht, mehr über den Gott Mithras zu erfahren, der Ivan zufolge der vorhergehende »Bewohner« des Tempels gewesen war. Aber über ihn gab es so viel Material, dass ich nach kurzer Zeit aufgegeben hatte. Aus der ganzen Masse an Informationen war mir immerhin in Erinnerung geblieben, dass es sich um eine persische Gottheit handelte, die fast gleichzeitig mit dem Christentum nach Rom gekommen war, und dass zwischen den beiden Religionen eine gewisse Zeit eine starke Rivalität geherrscht hatte. Dieser Mithras war eine Art göttliche Lichtgestalt, er kämpfte ständig mit den Schatten der Dunkelheit, um die universale Ordnung intakt zu halten: ein Herr der Gestirne, der den Auftrag hatte, die kosmische Achse zu bewegen, um die sich – wie man in der Antike annahm – das Universum drehte. Seine unterirdischen Tempel, die Mithräen , waren im ganzen Reich verteilt, und man hatte sowohl in England welche gefunden als auch an den Ufern der Donau; in ihnen praktizierten seine Getreuen einen Geheimkult, von dem man heute nur noch sehr wenig wusste.
Beim Näherkommen stellte ich fest, dass die Mauer von einem Geländer umgeben war, das nicht auf einer Ebene mit der Straße lag, sondern zu einer Art halbkreisförmigem Brunnen in einigen Meter Tiefe gehörte. Am Ende der Treppe, die nach da unten führte, war eine Tür aus dunklem Metall auszumachen, die halb offen stand und in einen dunklen Raum zu führen schien.
Ich sah mich um, konnte aber Ivan nirgends sehen. Offensichtlich war er schon nach unten gegangen und erwartete mich dort. Ich zog meine Lederjacke fester um mich, weil es plötzlich kälter war als ein paar Minuten zuvor. Dann ging ich die Treppen hinunter und drückte vorsichtig die Tür auf.
Im Inneren war es düster, eine Reihe kleiner Lampen an den Wänden verbreiteten ein mattes, gelbliches Licht. Die Decke war weniger tief als erwartet und bestand aus mehreren kleinen Wölbungen, die jeweils von einer ziemlich schmalen Säule gehalten wurden. Gleich links neben dem Eingang gab es eine weiße Tür, die möglicherweise in die unterirdischen Gänge der Stadt führte; ansonsten war die Krypta leer, mit Ausnahme von wenigen archäologischen Funden, die unter den Lämpchen aufgereiht lagen und mit Erklärungsschildchen versehen waren. In der Luft lag ein leicht süßlicher Geruch, der unangenehme Empfindungen in mir hervorrief.
Unschlüssig blieb ich auf der Schwelle stehen. Plötzlich bewegte sich etwas am Rand meines Blickfeldes und ließ mich unwillkürlich zurückweichen. Es war Ivan. Er stand in der entferntesten Ecke der Krypta neben einer Säule. Wie war es möglich, dass ich ihn nicht sofort gesehen hatte?
»Ivan!« Lächelnd ging ich auf ihn zu.
Er hatte die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, trug die Jacke und das Kapuzenshirt, mit denen ich ihn das erste Mal gesehen hatte, und eine seltsame Ledertasche in der Hand. Beim Klang meiner Stimme wandte er sich zu mir. Als sich unsere Blicke trafen, blieb ich mitten im Schritt stehen.
»Veronica …«
Hier stimmte was nicht, hier stimmte etwas ganz und gar nicht: Die plötzliche Erkenntnis fuhr mir wie ein Dolchstoß in die Rippen.
»Ivan, was ist los? …«
Ich wusste nicht, ob ich weiter auf ihn zugehen sollte oder nicht. In meinem Kopf schrillten die
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