Die zwei Monde: Roman (German Edition)
alles, was er getan hatte, hatte nur ein Ziel, mich in die Krypta zu locken, wo die Peitschen auf mich warteten. Er war der Räuber, der Jäger, der Wolf. Ich war das Rotkäppchen, das ihm in den Wald gefolgt war.
Ich packte mit beiden Händen die Bank und schleuderte sie zur Seite, so als wäre sie aus Karton: Ich riss sie aus dem Boden und warf sie hinter dem Blumenbeet auf den Asphalt, sodass zwischen uns nun ein Flecken von gelbem Gras und malträtiertem Erdreich lag.
Ivan wich zurück und sah mich unendlich traurig an. »Ich habe geglaubt, dass es notwendig sei, dass es unvermeidlich sei! Ich musste es einfach tun. Um den Wolf zu bekämpfen …«
Wie zur Antwort auf meine Wut fegte eine eiskalte Windböe über das Blumenbeet, und die Lichter um uns herum wurden schwächer.
Ich ballte die Fäuste. »Du hast mich glauben lassen, dass ich dir etwas bedeute! Du hast mir gesagt …«
Mir blieb das Wort im Halse stecken. Was hatte mir Ivan gesagt? Dass ich ihm gefiel? Dass er mit mir zusammen sein wollte? Dass er mich liebte?
Nichts von alldem hatte er gesagt. Er hatte mir zugehört, mich getröstet, er war mit mir ausgegangen und hatte mich geküsst. Aber er hatte mir nie irgendetwas versprochen. Das hatte ich mir alles nur eingebildet.
Die wenigen Lichter um uns herum verlöschten eins nach dem anderen wie Kerzenlicht, und der Wind verwandelte sich in einen heftigen Sturm, der an meinen Kleidern und Haaren zerrte. Ich sah jetzt kaum noch die Stadt im Hintergrund und das Gras unter unseren Füßen: Nur Ivan stand klar umrissen vor mir, die Augen glänzend und weit offen, die Haare vom Wind zur Seite gerissen.
Und ich hasste ihn. Weil er war wie alle anderen, weil er mich benutzt hatte, weil er all diese Dinge gesagt und getan hatte, nur um seine Zwecke zu verfolgen.
» Verräter! «, donnerte ich.
Ich machte zwei Schritte in seine Richtung, er wich zurück, hielt aber meinem Blick stand. »Ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten, Veronica. Ich weiß, dass es keine Entschuldigung gibt für das, was ich getan habe … für das, was ich dir angetan habe … aber du musst mich anhören, du musst …«
» Schweig! « Mein Brüllen dröhnte in der Dunkelheit und der Wind packte Ivan mit einer solchen Kraft, dass er nach hinten stolperte. » Du willst mich schon wieder täuschen! Du willst, dass ich dir glaube, damit du zu Ende führen kannst, was du begonnen hast! «
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ist alles ein Irrtum gewesen, Veronica! Ein schrecklicher Irrtum … Ich hätte es nie tun dürfen! Aber mein Vater sagte, dass …«
Ich stürzte mich mit ausgestreckten Armen auf ihn, aber er machte einen Sprung zur Seite, und mein Angriff ging daneben. Knurrend drehte ich mich zu ihm um. Ich verspürte ein heftiges körperliches Verlangen, ihn anzufallen, ihm meine Finger mit aller Kraft ins Fleisch zu graben.
Er breitete die Arme aus. »Wenn du mir wehtun willst, werde ich dich nicht aufhalten. Ich habe nicht die Kraft dazu, und es ist dein gutes Recht. Aber vorher hör mir zu, ich bitte dich, hör mich an …«
Ich stieß ein neuerliches Knurren aus, machte aber keine Bewegung.
Ivan holte Luft. »Ich habe Kontakt zu dir aufgenommen, um dich in die Falle zu locken, das ist wahr. Ich habe dich ausfindig gemacht, ich habe dafür gesorgt, dass du mir vertraust. Aber dann ist alles anders gekommen. Meine Aufgabe war es, den Wolf in die Falle zu locken, aber dann habe ich einen Menschen getroffen … dich !« Er schüttelte den Kopf, als ob ihm plötzlich die Worte fehlten. »In meinem Kopf war nur das Monster … nur der Werwolf, der aufgespürt und besiegt werden musste. Ich konnte nichts anderes sehen, ich durfte nichts anderes sehen, oder mein Auftrag wäre nie gelungen. Aber es war nicht der Wolf, mit dem ich gelacht habe, mit dem ich geschwommen bin, dem ich von mir und meiner Welt erzählt habe. Ich bin mit dir z usammen gewesen, Veronica. Ich habe dein Leben kennengelernt. Ich habe mit dir meine Erinnerungen geteilt. Ich habe dich geküsst.«
Das Knurren in meiner Kehle erstarb. Nein, nein, nein! Ich durfte ihm nicht zuhören!
Ein schwindelerregender Sturmwind fegte die Dunkelheit davon, um uns herum blitzten Lichter auf wie von Scheinwerfern und warfen die Schatten von Säulen auf einen steinernen Boden. Der Geruch von Eisenhut durchfuhr mich wie eine heiße Stichflamme, und ich befand mich von Neuem in der Krypta des Mithras, eingeschlossen in den Kreis von blauen Blütenblättern.
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